Die Entfesselung des Bösen (Teil II)

Warum so eilig?

Tanya Reinhart *, Tel Aviv,
junge Welt vom 09.01.2002

Scharons Weltsicht, nachdem Irak, Kosovo und Afghanistan durchexerziert worden sind.

 
Schon von Beginn des »Oslo-Prozesses« im September 1993 an gab es im politischen und militärischen System Israels zwei widerstreitende Konzeptionen. Die eine unter Führung des damaligen stellvertretenden Außenministers Yosi Beilin strebte danach, eine Spielart des Alon-Planes zu verwirklichen, den die Arbeitspartei seit Jahren befürwortet hatte. Der ursprüngliche Plan bestand in der Annexion von etwa 35 Prozent der Territorien durch Israel und einer jordanischen Herrschaft oder einer Art Selbstverwaltung für den Rest, d.h. dem Land, auf dem die Palästinenser tatsächlich leben. In den Augen seiner Befürworter handelte es sich bei diesem Plan um einen Kompromiß, dessen Notwendigkeit sich im Vergleich zu den beiden Alternativen ergab, d.h. entweder der völligen Aufgabe dieser Territorien oder des unaufhörlichen Blutvergießens (wie wir es heute erleben). Es schien, als ob der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin (1995 ermordet) diese Linie befolgen wollte, zumindest am Anfang, und daß er im Gegenzug zu Arafats Verpflichtung, die Frustration seines Volkes unter Kontrolle zu halten und die Sicherheit Israels zu gewährleisten, der Palästinenserbehörde erlauben wollte, diese Enklaven, in denen die Palästinenser noch ansässig sind, in Form einer Art Selbstverwaltung zu betreiben, die man sogar als einen palästinensischen »Staat« würde bezeichnen können.

Aber selbst hiergegen sperrte sich der andere Pol der offiziellen Meinungsbildung. Am meisten erkennbar war dies in Militärkreisen, deren vernehmbarster Sprecher in den frühen Jahren von Oslo der damalige Generalstabschef Ehud Barak war. Ein weiteres Zentrum der Opposition waren natürlich Scharon und die extreme Rechte, die von Anfang an gegen den Oslo-Prozeß waren. Diese Affinität zwischen den Militärkreisen und Scharon ist kaum überraschend. Scharon, der letzte der Führer der »1948er Generation«, war eine legendäre Figur in der Armee, und viele der Generale waren wie Barak seine Schüler. So schrieb Amir Oren: »Baraks tiefe und beständige Bewunderung für Ariel Scharons militärische Einsichten ist ein weiterer Anhaltspunkt für seine Ansichten; Barak und Scharon gehören beide zu der Linie der politischen Generale, die mit Moshe Dayan begann.« (Ha’aretz vom 8. Januar 1999)

Pure Landgier

Dieser Schlag von Generalen ist mit dem Mythos der Rückgewinnung des Landes aufgewachsen. Einen Einblick in Scharons Weltsicht bekommt man in seinem Interview mit Ari Shavit. (Ha’aretz, Wochenendbeilage vom 13. April 2001) Alles wird in einen romantischen Rahmen gestellt: Die Felder, die Blüten der Obstgärten, der Pflug und die Kriege. Das Herzstück dieser Ideologie ist die Heiligkeit des Landes. Moshe Dayan, Verteidigungsminister im Jahre 1967, erklärte 1976 in einem Interview, was damals zu der Entscheidung führte, Syrien anzugreifen. Im kollektiven israelischen Bewußtsein wurde Syrien in dieser Zeit als eine ernste Bedrohung für die Sicherheit Israels und als ein ständiger Initiator von Angriffen gegen die Einwohner von Nordisrael wahrgenommen. Aber laut Dayan ist das »Quatsch«; Syrien war vor 1967 keine Bedrohung für Israel. »Hören Sie doch damit auf ... Ich weiß, wie wenigstens 80 Prozent aller Zwischenfälle mit Syrien anfingen. Wir schickten einen Traktor in die entmilitarisierte Zone, und wir wußten, daß die Syrer schießen würden.« Laut Dayan (dem zur Zeit des Interviews einige Bedenken kamen) war es Landgier, was Israel bewog, Syrien auf diese Weise zu provozieren – die Vorstellung, daß es möglich ist, »sich ein Stück Land unrechtmäßig anzueignen und es so lange zu behalten, bis der Feind schlapp macht und es uns gibt.« (Yediot Aharonot vom 27. April 1997)

Am Vorabend von Oslo war die Mehrheit der israelischen Gesellschaft der Kriege überdrüssig. In ihren Augen waren die Kämpfe um Land und Ressourcen vorbei. Die meisten Israelis glauben, daß der Unabhängigkeitskrieg von 1948 mit seinen schrecklichen Folgen für die Palästinenser notwendig war, um einen Staat für die Juden zu errichten, die vom Alptraum des Holocaust verfolgt wurden. Aber nun, da sie einen Staat haben, sehnen sie sich danach, einfach mit dem zu leben, was sie haben. Doch die Ideologie der Rückgewinnung des Landes ist in der Armee nie ausgestorben, ebenso wenig wie in den Kreisen der »politischen Generale«, die aus der Armee in die Regierung wechseln. Mag auch in ihren Augen Scharons Alternative des Kampfes gegen die Palästinenser bis zum bitteren Ende und der Durchsetzung einer neuen regionalen Ordnung – wie im Libanon 1982 von ihm versucht – wegen der Schwäche der verwöhnten israelischen Gesellschaft gescheitert sein. Nun aber, da es die neue Kriegsstrategie gibt, die in Irak, Kosovo und Afghanistan durchexerziert worden ist, glauben sie, daß es mit der massiven Überlegenheit der israelischen Luftwaffe immer noch möglich sein könnte, diese Schlacht in der Zukunft zu gewinnen.

Während Scharons Partei zur Zeit von Oslo in der Opposition war, nahm Barak als Generalstabschef an den Verhandlungen teil und spielte eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Vereinbarungen und Israels Haltung zur Palästinenserbehörde.

Ständige Erniedrigung

Ich zitiere aus einem Artikel, den ich im Februar 1994 schrieb, weil er wiedergibt, was jeder sehen konnte, der damals die israelischen Medien aufmerksam verfolgte: »Von Anfang an konnte man zwei Konzeptionen identifizieren, die dem Oslo-Prozeß zugrunde liegen. Die eine besteht darin, daß damit eine Verminderung der Besatzungskosten möglich wird, und zwar durch Einsatz eines palästinensischen Günstlingsregimes mit Arafat als oberstem Polizisten, verantwortlich für die Sicherheit Israels. Die andere besteht darin, daß der Prozeß zum Zusammenbruch von Arafat und der PLO führen dürfte. Die Erniedrigung von Arafat und sein immer weiteres Nachgeben werden schrittweise zum Verlust der Unterstützung durch die Bevölkerung führen. Folglich wird die PLO zusammenbrechen oder zu Machtkämpfen übergehen. Damit wird die palästinensische Gesellschaft ihre weltliche Führung und weltlichen Institutionen verlieren. In der machtbesessenen Geistesverfassung derjenigen, die auf die Aufrechterhaltung der israelischen Besatzung versessen sind, wird der Zusammenbruch der weltlichen Führung als eine Errungenschaft gedeutet werden, weil es eine lange Zeit brauchen wird, bis das palästinensische Volk wieder organisiert ist, und auf jeden Fall ist es einfacher, die schlimmsten Akte der Unterdrückung zu rechtfertigen, wenn der Gegner eine fanatische moslemische Organisation ist. Höchstwahrscheinlich ist der Konflikt zwischen den beiden widerstreitenden Konzeptionen noch nicht beigelegt, aber im Augenblick scheint die zweite dominierend: Um die erste umzusetzen, hätte der Status von Arafat wenigstens mit einigen Errungenschaften gestärkt werden müssen, um bei den Palästinensern Unterstützung entstehen zu lassen, statt der israelischen Politik ständiger Erniedrigungen und des Bruchs von Versprechungen.« 1)

Dennoch ließ sich das Szenario des Zusammenbruchs der Palästinenserbehörde nicht verwirklichen. Die palästinensische Gesellschaft nahm wieder einmal zu ihrer erstaunlichen Strategie des »Zumud« Zuflucht – des Festhaltens am Land und des Standhaltens gegen den Druck. Von Anfang an haben die Hamas-Führung und andere immer wieder gewarnt, daß Israel versucht, die Palästinenser in einen Bürgerkrieg zu treiben, in dem die Nation sich selbst umbringt. Alle Elemente der Gesellschaft kooperierten, um diese Gefahr abzuwenden und Konflikte zu entschärfen, sobald sie in Waffengewalt ausarteten. Sie schafften es auch, trotz Arafats tyrannischer Herrschaft eine eindrucksvolle Reihe von Institutionen und Infrastruktur aufzubauen. Die Palästinenserbehörde besteht nicht nur aus den korrupten Führern und den verschiedenen Sicherheitskräften. Der gewählte Palästinenserrat, der unter unendlichen Beschränkungen arbeitet, ist immer noch ein repräsentativer politischer Rahmen, eine gewisse Basis für demokratische Einrichtungen in der Zukunft. Für jene, deren Ziel die Zerstörung der palästinensischen Identität und die schließliche Einverleibung ihres Landes ist, war Oslo ein Fehlschlag.

Im Jahre 1999 kehrten die »politischen Generale« an die Macht zurück – erst Barak und dann Scharon. (Sie wirkten bei den letzten Wahlen zusammen, um sicherzugehen, daß kein anderer, kein ziviler Kandidat, die Möglichkeit bekam, sich zur Wahl zu stellen.) Der Weg wurde frei, um den aus ihrer Sicht schweren Fehler von Oslo zu korrigieren. Um dahin zu gelangen, mußte man erst die verwöhnte israelische Gesellschaft überzeugen, daß die Palästinenser nicht bereit seien, in Frieden zu leben, und unsere schlichte Existenz bedrohten. Scharon allein hätte dies nicht zustande gebracht, Barak schaffte es mit dem betrügerischen Trick seines »großzügigen Angebots«. Nach einem Jahr schrecklicher Terroranschläge in Verbindung mit massiver Propaganda und Lügen meinen Scharon und die Armee nun, daß sie nichts mehr bei der vollen Durchsetzung ihrer Absichten aufhalten kann.

Vorhersehbare Katastrophe

Warum hat man es so eilig, Arafat zu kippen? Shabtai Shavit, ehemaliger Leiter des Geheimdienstes (Mossad), der nicht den Beschränkungen unterliegt, die offiziellen Quellen auferlegt sind, gibt eine unverblümte Erklärung: »In den etwa 30 Jahren, da er (Arafat) an der Spitze steht, erreichte er es, wirkliche Errungenschaften auf politischer und internationaler Ebene zu erzielen ... Er erhielt den Friedensnobelpreis, und mit einem einzigen Anruf bekommt er einen Gesprächstermin mit jedem führenden Politiker der Welt. Es gibt niemanden in den palästinensischen Reihen, der in bezug auf seinen internationalen Status in seine Fußstapfen treten kann. Wenn sie (die Palästinenser) diesen Vorteil verlieren, dann ist das für uns eine gewaltige Leistung. Palästina wird als Thema von der internationalen Tagesordnung verschwinden.« (Interview in der Wochenendbeilage von Yediot Aharonot vom 7. Dezember 2001)

Ihr unmittelbares Ziel ist es, die Palästinenser von der internationalen Tagesordnung verschwinden zu lassen, damit das Gemetzel, die Aushungerung, die Zwangsvertreibung und die »Auswanderung« ungestört ihren Fortgang nehmen können, was dann möglicherweise zur endgültigen Verwirklichung von Scharons lang gehegten Visionen führen könnte, die in den Plänen der Militärs Gestalt angenommen haben. Das unmittelbare Ziel eines jeden, der sich mit der Zukunft der Welt befaßt, sollte es sein, diesem Prozeß der Entfesselung des Bösen Einhalt zu gebieten. Wie Alain Joxe zum Schluß seines in Teil 1 bereits erwähnten Artikels in Le Monde feststellt: »Es ist Zeit, daß die öffentliche Meinung im Westen sich der Sache annimmt und die Regierungen zwingt, moralisch und politisch Stellung zu beziehen angesichts der vorhersehbaren Katastrophe, nämlich einer Situation des permanenten Krieges gegen die arabischen und moslemischen Völker und Staaten – in dem sich die zweifachen Hirngespinste von Bin Laden und Scharon erfüllen würden.« (17. Dezember 2001)

1) Dieser Artikel (nur in hebräisch) ist zugänglich unter:

http://www. tau.ac.il/~reinhart/political/01GovmntObstacleToPeace.doc

(Aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff)

Teil I: Arafat - eine Bedrohung Israels?

 
Adresse: http://www.jungewelt.de/2002/01-09/010.php
 
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