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Die Schandmauer

Sie enteignet Palästinenser und wird Israel keine Sicherheit bringen / Von Uri Avnery

FR, 10.10.2003

Die meisten Israelis hoffen, dass der Sperrzaun sie vor arabischem Terror schützen wird. Falsch, analysiert der Friedensaktivist Uri Avnery. Denn die Mauer sei ein Instrument des Unrechts und eines demokratischen Staates unwürdig.

Nur Vögel könne sie leicht überwinden, die Wand, mit der sich Israel auch selbst einmauert. (dpa)
Näheres zum der +Verlauf der Mauer
Den Bruchteil einer Sekunde lang war ich von panischer Angst erfüllt. Das schreckliche Monster, das auf mich zukam, war kaum mehr als fünf Meter von mir entfernt und rollte auf mich zu, als ob ich nicht da wäre. Der riesige Bulldozer schob einen großen Haufen Erde und Geröll vor sich her. Der Fahrer, zwei Meter über mir, schien ein Teil dieser Maschine zu sein. Es war klar, nichts würde ihn aufhalten. Ich sprang im letzten Augenblick zur Seite.

Vor ein paar Wochen war die amerikanische Friedensaktivistin Rachel Corrie in einer ähnlichen Situation; sie erwartete, dass der Fahrer anhalten würde. Er tat es nicht, und sie wurde zu Tode zermalmt.

Bei meiner Begegnung mit dem Monster kam ich nicht, um zu demonstrieren, sondern um mich umzusehen. Im Olivenhain, ein paar Meter entfernt von den Zelten, die von den Dorfbewohnern von Masha zusammen mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten aufgebaut worden waren, bereiteten drei Ungeheuer den Boden für die Trennmauer vor. Staubwolken wirbelten auf, und ohrenbetäubender Lärm umgab uns, so dass wir kaum miteinander reden konnten. Die Bulldozer arbeiteten jeden Tag, sogar über Pessach, zwölf Stunden am Tag ohne Unterbrechung.

Die gesamte israelische Öffentlichkeit ist für die Trennmauer. Sie weiß gar nicht, was sie da unterstützt. Man muss sich an Ort und Stelle begeben, um all die Folgen dieses Projekts zu verstehen.

Zunächst muss eindeutig gesagt werden: Diese Mauer hat nichts mit Sicherheit zu tun. Sie wird der israelischen Öffentlichkeit als so genannter "Sicherheitszaun" verkauft. Die Armee nennt sie ein "Hindernis". Die Öffentlichkeit, die sich natürlich nach Sicherheit sehnt, nimmt dies für bare Münze. Endlich wird etwas getan!

Die Sache sieht tatsächlich auch ganz einfach aus. Selbst der einfachste Mensch kann sie begreifen. Es ist offensichtlich: Ein Palästinenser, der sich in Israel in die Luft jagen will, muss zuerst die Grenze von 1967, die so genannte Grüne Linie, überqueren. Wenn entlang der Grünen Linie eine Mauer oder ein Zaun gebaut wird, dann wird der Terrorist nicht mehr in der Lage sein, nach Israel zu gelangen. Keine Angriffe mehr, keine Selbstmordattentäter.

Aber, so viel sagt die Logik, wenn dies wirklich eine Sicherheitsmauer sein soll, wäre sie direkt entlang der Grünen Linie gebaut worden. Alle Israelis - außer den Siedlern - würden sich dann auf der einen Seite (der westlichen) befinden und alle Palästinenser auf der anderen. Die Linie sollte so gerade und so kurz wie möglich sein, denn sie muss inspiziert, patrouilliert und verteidigt werden. Je kürzer sie ist, desto einfacher und billiger ist sie zu verteidigen. Das wäre die Logik der Sicherheit.

Aber in Wirklichkeit wird die Mauer, von kleinen Abschnitten abgesehen, nicht auf der Grünen Linie gebaut, auch nicht in gerader Linie. Im Gegenteil: Sie mäandriert wie ein Fluss, dreht und windet sich, nähert sich der Grünen Linie und entfernt sich von ihr. Das ist kein Zufall. Der Verlauf eines Flussbetts wird von der Natur diktiert. Das Wasser gehorcht den Gesetzen der Schwerkraft. Aber der Plan für die Mauer berücksichtigt die Natur nicht. Die Bulldozer sind der Natur gegenüber gleichgültig; sie durchschneiden sie unbarmherzig. Was bestimmt diesen Plan?


Wenn man neben der Mauer steht, wird die Antwort deutlich sichtbar. Die einzige Erwägung, die ihren Verlauf bestimmt, sind die Siedlungen. Die Mauer windet sich wie eine Schlange nach einem einfachen Prinzip: Die meisten Siedlungen müssen auf ihrer westlichen Seite liegen, um eines Tages Israel angeschlossen werden zu können. Als ich auf einem Hügel stand, der von der Mauer überquert werden soll, und in westliche Richtung sah, erblickte ich unten Elkana, eine große jüdische Siedlung. Auf der östlichen Seite - nur ein paar Dutzend Meter entfernt - liegt das palästinensische Dorf Masha. Das Dorf selbst steht auf der östlichen Seite, aber fast all seine Ländereien liegen auf der westlichen Seite. Die Mauer wird das Dorf also von 98 Prozent seiner Ländereien abschneiden, von Olivenhainen und Feldern, die sich etwa sieben Kilometer bis zur Grünen Linie nahe Kafr Kassem erstrecken.

Masha ist ein großes Dorf, wie das Nachbardorf Bidia, in das früher jeden Samstag Tausende von Israelis zum Einkaufen kamen. Auch Masha war einst ein blühendes Dorf. Es hat ein großes Industriegebiet, das nun vollkommen verlassen ist. Man kann Masha nur zu Fuß auf einem steilen Pfad erreichen, da zu Beginn der Al-Aqsa-Intifada die israelische Armee mit zwei Erd- und Felshaufen die Hauptstraße blockierte. Kein Fahrzeug kann passieren.

"Zuerst haben sie unsere Existenzgrundlage zerstört", sagt Anwar Amar, der Dorfälteste, bitter. "Jetzt kommen sie wieder und nehmen uns unser Land."

Tatsächlich schwebt der faule Geruch des "Transfers" über der Mauer. Durch ihren Bau kommen ganze palästinensische Dörfer auf der westlichen Seite zu liegen - gefangen zwischen der Mauer und der Grünen Linie. Die Bewohner können sich nicht bewegen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und können kaum noch atmen. Andere Dörfer, wie Masha, werden auf der östlichen Seite der Mauer bleiben, aber ihr Land, von dem sie bisher lebten, wird auf der westlichen Seite sein. Es gibt Orte wie die Stadt Kalkilya, die fast vollständig von der Mauer umgeben werden, die nur eine kleine Öffnung zum Westjordanland hin offen lässt. Eine der Absichten des Mauerbaus ist es zweifellos, das Leben der Einwohner zur Hölle zu machen, um sie nach und nach zum Verlassen des Landes zu bewegen. Es ist eine Art "schleichender Transfer".

DER AUTOR
Uri Avnery,
seit über 40 Jahren die politische und intellektuelle Führungsfigur der israelischen Friedensbewegung, ist am 10. September 80 Jahre alt geworden. Unermüdlich engagiert er sich im Rahmen seiner politischen und publizistischen Arbeit für einen Dialog mit den Palästinensern und für eine Zweistaatenlösung als Grundlage einer Befriedung des Palästinakonflikts.

Avnery wurde häufig als Prophet bezeichnet, weil er treffend die politische Entwicklung voraussagte. Er scheut sich nicht, das Unpopuläre auszusprechen, gegen den politischen Strom zu schwimmen und den "nationalen Konsens" in Israel zu brechen.

Avnery wurde 1923 im westfälischen Beckum geboren, emigrierte 1933 mit seinen Eltern nach Palästina. Von 1965 bis 1973 und von 1979 bis 1981 war er Mitglied im israelischen Parlament.

Bereits 1973 initiierte er geheime Kontakte zur PLO. 1982 traf Avnery - eine Weltsensation - als erster Israeli mit Yassir Arafat zusammen. 1993 war er Mitbegründer von "Gush Shalom" (Friedensblock).

1997 erhielt er den Aachener Friedenspreis, 2001 den Alternativen Nobelpreis.

"Ein Leben für den Frieden" heißt das Buch, aus dem der hier dokumentierte Beitrag entnommen ist. Es ist aus Anlass von Avnerys 80. Geburtstag erschienen und versammelt seine wichtigsten Artikel, Essays und Reden der letzten Jahre.

"Ein Leben für den Frieden". Klartexte über Israel und Palästina. Palmyra Verlag, Heidelberg 2003, 310 Seiten, ca. 16 Euro, ISBN 3-930378-50-7.

Der Autor stellt am Samstag, 11. 10. (14 und 15 Uhr), sein Buch auf der Frankfurter Buchmesse vor: Halle 3.1 Stand A173.

Ebenfalls im Palmyra Verlag sind von Avnery die beiden Bücher Zwei Völker - Zwei Staaten (Vorwort von Rudolf Augstein) und Die Jerusalemfrage (zusammen mit Azmi Bishara) erschienen
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Wie der furchterregende Bulldozer, der Erde und Felsen vor sich herschiebt, so schieben die Besatzer die palästinensische Bevölkerung vor sich her - immer weiter nach Osten, immer weiter hinaus.Historiker können hierin einen kontinuierlichen Prozess erkennen, der vor 120 Jahren begann und seither keinen Augenblick unterbrochen wurde. Er begann mit der Vertreibung der Fellachen von Land, das von abwesenden Großgrundbesitzern verkauft worden war, und setzte sich in der Nakba von 1948 fort, der massive Landenteignungen der Araber in Israel folgten. Daran schlossen sich die Vertreibungen während des Kriegs von 1967 sowie die schleichende Räumung durch den Bau von Siedlungen und Umgehungsstraßen während der Besatzungsjahre an. Und nun kommt die Vertreibung durch die Mauer. Die hebräischen Bulldozer rollen vorwärts. Es ist kein Zufall, dass Ariel Sharon den Spitznamen "der Bulldozer" trägt.

Die Mauer von Masha und Kalkilya, die sich bis in die Gilboaberge fortsetzt, ist nicht die einzige. Östlich davon ist schon eine zweite in Planung. Sie wird Ariel und die Siedlung Kedumim umgeben, dabei 20 Kilometer auf palästinensisches Gebiet vordringen und so fast die Mittelachse des Westjordanlands, die Ramallah-Nablus-Straße, erreichen.

Doch damit nicht genug: Sharon plant auch noch die "Östliche Mauer", die das Westjordanland vom Jordantal abschneiden soll. Wenn dieser Plan umgesetzt wird, wird das ganze Land zu einer Insel, die nur von israelischem Gebiet umgeben ist, von allen Seiten abgeschnitten. Auch das südliche Westjordanland (Hebron und Bethlehem) wird vom nördlichen (Ramallah, Nablus, Dschenin), das ebenfalls in verschiedene Enklaven aufgeteilt wird, abgeschnitten.

Dieses Szenario erinnert sehr an die Karte von Südafrika zur Zeit der Apartheid. Die rassistische Regierung schuf mehrere schwarze "Homelands", auch "Bantustans" genannt, angeblich selbstverwaltete Gebiete, deren schwarze Führer von der weißen Regierung bestimmt wurden. Jedes Bantustan war vollkommen vom Gebiet des rassistischen Staates umgeben, abgeschnitten vom Rest der Welt.

Genau das ist es, was Sharon im Sinn hat, wenn er von einem "palästinensischen Staat" spricht. Dieser soll aus mehreren von israelischem Gebiet umgebenen Enklaven bestehen, ohne eine Außengrenze mit Jordanien oder Ägypten zu haben. Sharon hat seit Jahrzehnten an der Umsetzung dieses Plans gearbeitet, Dutzende von Siedlungen gemäß seiner Landkarte errichtet.

Die Mauer wird diesem Zweck dienen. Sie hat nichts mit Sicherheit zu tun. Sie wird gewiss keinen Frieden bringen, sondern zu nur noch mehr Hass und Blutvergießen führen. Die bloße Idee, dass ein Hindernis aus Zement oder Stacheldraht den Hass beenden könnte, ist lächerlich.

Die Arbeit der Bulldozer geht weiter - vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Sharon redet über den so genannten Fahrplan zum Frieden (Roadmap for Peace) und schafft unterdessen auf dem Boden vollendete Tatsachen. Aber diese Mauer hat noch eine tiefere Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass sie in Israel so ungeheuer populär ist, von Ariel Sharon bis Amram Mitzna und Yossi Beilin: Sie verspricht nämlich, ein tiefes, inneres Bedürfnis zu befriedigen.

In seinem Buch "Der Judenstaat", dem Gründungsdokument des Zionismus, schrieb Theodor Herzl 1896 folgende Sätze: "Für Europa würden wir dort (in Palästina) ein Stück des Walles gegen Asien bilden. Wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen." Die Vorstellung, dass wir der Vorposten Europas sind und einen hohen Wall zwischen uns und asiatischer Barbarei - das heißt den Arabern - benötigen, ist so bereits Bestandteil der ursprünglichen Vision. Vielleicht hat sie sogar noch ältere Wurzeln. Als die Juden begannen, in Ghettos zu wohnen - bevor sie von außen dazu gezwungen wurden -, umgaben sie sich mit einer Mauer, um sich von der feindlichen Umwelt abzuschotten. Mauer und Trennung - als Garantie für Sicherheit - sind tief in das jüdische kollektive Unterbewusstsein eingeprägt.

Aber wir als neue hebräische Gesellschaft in diesem Land wollen nicht in einem neuen jüdischen Ghetto leben. Wir suchen nicht Trennung, sondern das Gegenteil: Offenheit gegenüber der Region; nicht "eine Villa im Dschungel" wie Ehud Barak es nannte, nicht einen europäischen Vorposten gegen asiatische Barbarei, wie Herzl es gesehen hat, sondern eine offene Gesellschaft, die in Frieden lebt und in Partnerschaft mit den Nationen der Region gedeiht.

Diese Schandmauer ist nicht nur ein Instrument der Regierung, um Palästinenser zu enteignen, nicht nur ein Instrument des Terrors, das als Verteidigung gegen den Terrorismus getarnt ist, und nicht nur ein Instrument der Siedler, das als Sicherheitsmaßnahme ausgegeben wird. Sie ist vor allem ein Hindernis für Israel, eine Mauer, die unseren Weg in eine Zukunft des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands blockiert.

3. Mai 2003

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003
Dokument erstellt am 09.10.2003 um 17:40:01 Uhr
Erscheinungsdatum 10.10.2003


Nähere Infos über die "Schutz"-Mauer:

auf der Seite der israelischen Friedensaktivisten von Gush shalom (incl. vieler Karten und Bilder):
http://www.gush-shalom.org/thewall/

Siehe auch:
den Überblick über den Verlauf der Mauer und die Mauer im Detail mit vielen Bilder
und die Themenseite Palästina/Israel auf dieser Homepage

sowie:
Pengon, The Palestinian Environmental NGOs Network
The Apartheid Wall Campaign: www.pengon.org/wall/deutsch.html

Internat. Kampagne gegen die Mauer:
http://www.stopthewall.org/

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