Afghanistans Frauen nach der „Befreiung”

von Meena Nanji

ZNet 29.12.2003

Letzte Woche ereignete sich in Afghanistan während der Zusammenkunft der Loya Jirga(Große Versammlung) zur Diskussion von Afghanistans neuer Verfassung etwas Außerordentliches. Malalai Joya, eine 25-jährige Sozialarbeiterin aus der ländlichen Provinz Farah, sprach aus, was bis dahin niemand zu sagen wagte: dass viele der Vorsitzenden in der Jirga Kriminelle seien, die das Land zerstört hatten. Anstatt ihnen einflussreiche Positionen in der Jirga zu geben, sollten sie wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt werden.

Das erregte Protest und viele der bei der von den Mudschaheddin (heilige Krieger) dominierten Jirga Anwesenden schrieen „Tod den Kommunisten“. Joya wurde das Mikrophon abgestellt und sie musste zeitweilig zwangsweise zu „ihrer eigenen Sicherheit” den Raum verlassen.

Joyas Haltung war außerordentlich mutig. Viele Afghanen teilen ihre Gefühle, aber die meisten haben zu viel Angst, um sie öffentlich zu äußern. Nachdem sie Todesdrohungen erhalten hatte, befindet sich Joya selbst nun für die Dauer der Jirga unter dem Schutz der UN.

Die „Aktionen”, auf die sie sich bezog, fanden großenteils von 1992 – 6 unter der Herrschaft der Dschihadis (sehr religiös-konservative Mudschaheddin) statt. Die Dschihadis, berühmt-berüchtigt dafür, dass sie den Frauen Säure ins Gesicht schütteten, ihnen die Brüste abschnitten und andere grausame Taten begingen, kamen während der 1980ern an die Macht, als die USA es für angebracht hielten, sie für den Kampf gegen die sowjetische Besatzung finanziell zu unterstützen, zu bewaffnen und zu trainieren. Während ihrer Herrschaft terrorisierten sie die Zivilbevölkerung mit flächendeckendem Raketenbeschuss, Vergewaltigungen, Folter und Tötungen in so einem Ausmaß, dass die Taliban, als die 1996 hervortraten, zu Anfang willkommen waren.

Nach dem Fall der Taliban sind nun dieselben Führer der Dschihadis, einschließlich Buhruddin Rabbani, Abdul Sayyaf und Mitgliedern der Nordallianz, wieder aufgetaucht, mit verheerenden Folgen für die afghanische Bevölkerung, vor allem für die Frauen.

Früher in diesem Jahr besuchte ich Kabul, um einen Dokumentarfilm über afghanische Frauen abzuschließen. Zwei der drei Frauen, denen ich „gefolgt“ war, hatten sich geweigert, in ein von den Mudschaheddin beherrschtes Afghanistan zurückzukehren, die, sagten sie, nur noch mehr Gewalt in das Land brächten. Sie blieben in Pakistan. Die Frau, die zurückkehrte, führt nun ein Leben in fast vollständiger Zurückgezogenheit.

Für die meisten Frauen hat sich das Leben seit dem Sturz der Taliban nicht sehr geändert. Während es angeblich für die Frauen mehr Möglichkeiten gibt, Frauen können zu Schule gehen, erhalten Gesundheitsversorgung und gehen arbeiten, können in Wirklichkeit nur wenige Frauen diese Möglichkeiten nützen, die sich hauptsächlich auf Kabul beschränken. Gemäß den Aussagen vieler Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und afghanischen Frauen, mit denen ich sprach, haben die Frauen immer noch große Angst vor den bewaffneten, von den USA unterstützten Mudschaheddin, die große Teile des Landes kontrollieren. Die meisten Frauen, selbst in Kabul, tragen immer noch die Burka (ein Kleidungsstück, das den Körper von Kopf bis zu den Zehen bedeckt) als Schutz gegen öffentliche Beleidigungen und körperliche Angriffe. Die UN und internationale Menschenrechtsgruppen veröffentlichten vor kurzem ausführliche Berichte über die anwachsende Zahl von Auspeitschungen, Entführungen und Vergewaltigungen durch die von den USA finanzierten regionalen Kriegsfürsten und ihre Milizen und stellen fest: „Ungestraft verletzen lokale Milizkommandeure die Rechte der Frauen und begehen sexuellen Missbrauch.“

Zudem sind die Frauen immer noch den Forderungen ihrer Ehemänner und männlichen Verwandten unterworfen, von denen viele den Frauen keinerlei Unabhängigkeit gewähren wollen. Im persönlichen und Berufsleben haben die Frauen nur wenig Wahlmöglichkeiten. Erzwungene Ehen und Ehen mit Minderjährigen sind üblich und Schulbesuch für Mädchen ist immer noch umstritten.

Das Ministerium für Frauenangelegenheiten, das von den USA und den UN mit großem Getöse eingeführt wurde, ist keine große Hilfe für den Fortschritt der Frauenrechte. Viele glauben, dass es nur dem Namen nach existiert, um internationale Spender bei Laune zu halten. Mit einem schlecht definierten Mandat hat es keinerlei legale Zuständigkeiten und keine Macht zur Durchsetzung von Gesetzen. Dazu kommen viele der im Ministerium arbeitenden Frauen aus der Elite und sind selbst sehr konservativ. Sie haben wenig Interesse an einer Änderung des Status quo.

Faitana Gailani, die reiche Gründerin des afghanischen Frauenrates, einer NRO, die sich vorgeblich für Frauenrechte engagiert, ist ein Beispiel für diese Perspektive. Die New York Times berichtete, dass Gailani Malalai Joya nach deren leidenschaftlichen Appell an die Loya Jirga erklärte, dass die Frauen vorsichtig vorgehen müssten, damit sich das Land geschlossen vorwärts bewegen könnte.

„Bis wann sollen wir denn still sein?”, fragte Ms. Joya. Gailanis Antwort war: „Bis wir stark sind, bis das Land stark ist, bis unsere Demokratie stark ist, bis die Lage der Frauen in diesem Land stark ist. Dann können wir den Mund aufmachen.”

In der Zwischenzeit werden die wenigen Rechte, die Frauen besitzen, weiter beschnitten. Das ist großenteils auf die Rolle des Obersten Richters am Obersten Gerichtshof zurückzuführen. Fazl Hadi Shinwari ist ein Verbündeter des pro-wahhabitischen, von den Saudis unterstützen fundamentalistischen Führers Abdul Sayyaf. Shinwari ist über achtzig Jahre alt und nur in religiösem, nicht aber weltlichem Recht ausgebildet, was gegen die existierende Verfassung verstößt.

Die Ernennung Shinwaris durch Präsident Karzai ist für die Frauen ein Nagel zu ihrem Sarg. Er besetzte den aus neun Mitgliedern bestehenden Gerichtshof mit 137 wohl gesonnenen Mullahs und forderte taliban-mäßige Bestrafungen, um die Gesetze der Scharia einzuführen. Er hat auch das gefürchtete Departement für Untugenden und Tugend der Taliban, umbenannt in Ministerium für Religiöse Angelegenheiten, wieder eingeführt, das nun Frauen dazu einsetzt, „unislamischem“ Verhalten unter afghanischen Frauen in der Öffentlichkeit Einhalt zu gebieten.

Wenn eine Frau meldet, dass sie geschlagen oder vergewaltigt wurde, und wenn ihre Beschwerde wie durch ein Wunder vor Gericht kommt, ist die überwältigende Einstellung: „Was hat sie getan, um diese Tat zu provozieren?“ Sie wird dafür verantwortlich gemacht, während der Täter nur als reagierend betrachtet wird. Die Gesetze der Sharia werden zitiert, um diese Anschauung zu unterstützen. Frauen, die Missbrauch melden, werden oft ins Gefängnis gesteckt und gegen ihren Willen auf unbestimmte Zeit festgehalten, angeblich zu ihrem eigenen Schutz. Einige vermuten, dass der wirkliche Grund, warum sie festgehalten werden, der ist, dass sie als Beispiel für andere Frauen dienen sollen: „Wenn du einen Mann wegen Missbrauchs anzeigst, kommst du ins Gefängnis.“

Die Liste der dieses Jahr verabschiedeten, das Verhalten der Frauen regelnden Gesetze liest sich wie eine Seite aus einem Handbuch der Taliban. Diese Gesetze umfassen das Verbot von koedukativen Klassen, Reiseeinschränkungen für Frauen, das Verbot für Frauen, in der Öffentlichkeit zu singen. Der bisher größte Schlag wurde den Frauenrechten im November versetzt, als ein Gesetz von 1970, das verheirateten Frauen den Besuch des Gymnasiums verbietet, bestätigt wurde. Das war für Frauen und Mädchen ein großer Schritt rückwärts, da viele minderjährige Mädchen zum Heiraten gezwungen werden und nun keine Hoffnung haben, ihr Leben zu verbessern. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten hat nichts unternommen, um gegen das Gesetz zu protestieren.

Außerhalb Kabuls sind die Bedingungen noch schlimmer. Mädchenschulen wurden und werden angezündet. In Herat, unter dem Gouverneur Ishmael Khan, können Frauen nicht mit Männern fahren, die nicht mit ihnen verwandt sind, und wenn Frauen mit “nicht verwandten” Männern gesehen werden, kann sie die Polizei für einen „Keuschheitstest“ ins Krankenhaus schicken. Außerdem dürfen männliche Lehrer keine Frauen unterrichten, ein Schritt, der vom Obersten Richter Shinwari veranlasst wurde.

Das besonders Bedrohliche an der Lage Afghanistans ist die erneute legale und religiöse Sanktionierung der Unterdrückung der Frau: Der Staatsapparat wurde aktiv dazu benutzt, ihnen ihre Menschenrechte abzuerkennen. Es ist unerlässlich, dass die Amerikaner nun ihre Meinung dagegen sagen. Malalai Joyas mutige Haltung muss unterstützt und ihre Anschuldigungen untersucht werden. Die USA sollten ihre gegenwärtige Unterstützung der Fundamentalisten beenden und den ausdrücklichen Schutz der Frauenrechte in der neuen Verfassung Afghanistans fordern.

Meena Nanji ist eine Filmemacherin und lebt in Los Angeles und Neu Delhi. Derzeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über das Leben von drei afghanischen Frauen, mit dem Titel: View from A Grain of Sand.