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Die Legende vom Ende der Neocons

Knut Mellenthin
junge Welt 12.12.2006 / Thema, Seite 10 und 13.12.2006 / Thema, Seite 10

Teil I: Totgesagte leben länger

US-amerikanische Neokonservative rücken von der Politik des US-Präsidenten George W. Bush ab – um ihn von rechts zu kritisieren

Am 30. Oktober, eine Woche vor den Kongreßwahlen in den USA, wartete Spiegel online mit einer frohen Botschaft auf: »Das Ende der Neocons« – so die Artikelüberschrift – stehe greifbar nahe bevor. »Ein Verlierer der US-Kongreßwahl steht jetzt schon fest, egal wer am kommenden Dienstag gewinnt: die Neokonservativen. Deren Ideologie von einer militärisch demokratisierten Welt unter amerikanischer Führung ist im Irak gescheitert.«

An diesem Satz sind die wichtigsten Punkte falsch: Die Neokonservativen stehen nicht für eine Ideologie, sondern für eine politische Strategie und für konkretes Handeln. Um Demokratisierung der Welt geht es dabei ganz und gar nicht. Sondern langfristig ist das Ziel, durch eine hybride Rüstung den USA die Hegemonie über die Welt für alle Zeiten zu sichern, wobei letztlich Rußland und mehr noch China die Hauptfeinde der Zukunft sind. Kurz- bis mittelfristig geht es darum, unter dem betrügerischen Titel einer »Neuordnung« den gesamten Nahen und Mittleren Osten immer weiter zu chaotisieren und in permanenten Kriegszustand zu versetzen.

Daß diese Strategie bereits »gescheitert« sei, ist eine vorschnelle Annahme. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die USA ihre Kriege im Irak und in Afghanistan noch jahrelang weiterführen wollen, mit entsprechend destruktiven Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Staaten. Luftangriffe gegen den Iran, möglicherweise sogar der erste Atomwaffeneinsatz seit 1945 bleiben als ganz selbstverständlich erörterte »Optionen« weiterhin auf dem Tisch. Und die Ausweitung des Afghanistan-Krieges auf das benachbarte Westpakistan ist vermutlich nur eine Frage der Zeit.
Nur zwei Überläufer
Um die These vom Ende der Neocons trotzdem irgendwie halbwegs plausibel erscheinen zu lassen, präsentierte Spiegel online einen einzigen Neokonservativen, der inzwischen der Strömung den Rücken gekehrt hat: Francis Fukuyama, bekannt geworden als Autor des 1992 erschienenen Buches »The End of History and the Last Man« (Das Ende der Geschichte).

Um Fukuyamas Abfall von den Neocons als bedeutend erscheinend zu lassen, behauptete das Nachrichtenmagazin, er sei »lange der Lieblingsideologe der Republikaner« gewesen, und er gelte als »Vater der Neocons«. Die erste Aussage stimmt nicht und die zweite ist völlig falsch. Fukuyama war gerade mal um die 15 Jahre alt, als sich in der zweiten Hälfte der Sechziger die Strömung der Neokonservativen herauszubilden begann. Er hat in den neunziger Jahren zwei von den Neocons initiierte offene Briefe unterschrieben. Und er hat 1997, neben vielen anderen, die Gründungserklärung (Statement of Principles) des Project for the New American Century unterzeichnet. Damit ist seine Rolle unter den Neocons im wesentlichen auch schon umrissen. Zu den Tonangebern dieser Strömung hat er nie gehört, an ihren Diskussionen hat er sich kaum beteiligt. Daher hat es jetzt auch keine große Bedeutung, wenn er sich kritisch über die praktischen Ergebnisse der neokonservativen Strategie ausspricht.

Spiegel online behauptete weiter: »Mit ihm (Fukuyama – K. M.) kehrten inzwischen die meisten alten Kämpen (der Neokonservativen – K. M.) den Republikanern den Rücken. Neocons, ade.« – Die meisten? Also zweifellos doch wohl sehr viele und zumindest mehr als die Hälfte? Aber weit gefehlt: Das Nachrichtenmagazin nannte außer Fukuyama nicht einen einzigen Namen. Viel mehr zu nennen dürfte auch sehr schwerfallen, denn es gibt nur noch einen weiteren namhaften Politiker aus den Reihen der Neokonservativen, der mittlerweile die Seiten gewechselt hat: Richard Lee Armitage, der von 2001 bis 2005 stellvertretender Außenminister unter Colin Powell war.

Die meisten Neocons haben den Republikanern den Rücken gekehrt? Tatsächlich haben sie der Republikanischen Partei immer schon mit deutlicher Distanz gegenübergestanden. Anderenfalls wären sie keine eigenständige politische Strömung, die sich seit nunmehr fast vierzig Jahren behauptet. Die Republikaner sind aus neokonservativer Sicht lediglich ganz eindeutig das geringere Übel, verglichen mit der Demokratischen Partei. Daran hat sich absolut nichts geändert und wird sich nach Lage der Dinge auch künftig nichts ändern. Weder laufen die Neocons zu den Demokraten über, noch gehen sie, soweit es sich heute beurteilen läßt, als Strömung ihrer Selbstauflösung entgegen.

Es wäre überflüssig, über den Spiegel in diesem Zusammenhang auch nur ein Wort zu verlieren, wenn seine Phantastereien nicht symptomatisch wären für Dutzende von Artikeln der Mainstreammedien, die in ähnlich oberflächlicher, voreiliger und vor allem sachlich völlig falscher Weise das Ende der Neocons abfeiern. Totgesagte leben länger, heißt es zu Recht, und die US-amerikanischen Neokonservativen haben in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz als politische Strömung schon eine ganze Reihe von Totsagungen überlebt.

Eine zentrale Rolle bei der jetzigen Legendenbildung über das Ende der Neocons spielt ein Artikel, der am 3. November, vier Tage vor der Kongreßwahl, vom Magazin Vanity Fair verbreitet wurde. Überschrieben mit »NOW they tell us« (»Das sagen sie uns JETZT«) und »Neo Culpa« – letzteres eine Anspielung auf den lateinischen Ausspruch »mea culpa« (meine Schuld), das traditionelle Bekenntnis reumütiger Sünder in der katholischen Kirche. Bei dem Artikel handelte es sich um die Kurzfassung einer Reihe von Interviews mit hochkarätigen Figuren des Neokonservativismus. Die vollständigen Interviews sollen erst in der Januarausgabe von Vanity Fair erscheinen.

Keine Schuldbekenntnisse

Die im Internet vorab verbreitete Kurzfassung war eine äußerst geschickt redigierte, auf die Schlußphase des Wahlkampfs berechnete Intervention zugunsten der Demokratischen Partei. Die suggerierte Kernaussage: Die Führer der neokonservativen Strömung sind verzweifelt über das Fiasko ihrer Strategie im Irak und fallen jetzt mit Schuldzuweisungen über Präsident George W. Bush her. In diesem Sinn formulierte Harper's Magazine am 20. November sehr witzig, aber inhaltlich voll daneben, über einen der interviewten Neocons, Kenneth Adelman: »Eine Ratte verläßt das Narrenschiff«. Spiegel online schrieb am 4. November unter Bezugnahme auf Vanity Fair: »Um den amerikanischen Präsidenten wird es wenige Tage vor den Kongreßwahlen immer einsamer. Nun gehen auch die Neokonservativen wegen des Irak-Krieges zu Bush auf Distanz.«

Am 5. November antworteten die interviewten Neokonservativen – Richard Perle, Michael Ledeen, Eliot Cohen, Michael Rubin, Frank Gaffney und David Frum – auf die Veröffentlichung von Vanity Fair, indem sie dem Magazin unfaires Verhalten vorwarfen. Ihre persönlichen Stellungnahmen erschienen auf den Internetseiten der National Review, dem wichtigsten Debattenforum der Neocons. Ein zentraler Vorwurf, den übereinstimmend alle erhoben, lautete: Ihnen sei ausdrücklich versprochen worden, daß der Artikel erst in der Januarausgabe und auf gar keinen Fall vor der Wahl erscheinen werde. Mit der Vorabveröffentlichung seien ihre Stellungnahmen bewußt für den Wahlkampf gegen die Republikaner und gegen Präsident Bush instrumentalisiert und teilweise auch manipuliert worden.

Einige Interviewte behaupteten darüber hinaus, ihre Aussagen seien sinnwidrig, »außerhalb des Kontextes«, zitiert worden. Keiner stellte nachträglich sein Werben für den Irak-Krieg in Frage. Trotzig verkündete beispielsweise David Frum, der frühere Redenschreiber von Bush, der 2002 die »Achse des Bösen« erfand: »Meine grundsätzlichen Ansichten über den Irak-Krieg sind immer noch dieselben wie 2003: Der Krieg war richtig, der Sieg ist lebenswichtig und eine Niederlage wäre eine Katastrophe.«

Keiner der von Vanity Fair befragten Neokonservativen wollte Bush persönlich kritisiert haben. Der Präsident, so der allgemeine Tenor der Stellungnahmen in National Review, habe lediglich die falschen Berater. Der dreiwöchige Krieg im Frühjahr 2003 sei brillant geführt worden, aber die danach betriebene Politik sei voller verhängnisvoller Fehler gewesen. Das sei im übrigen keine neue Erkenntnis, sondern diese Kritik habe man schon vor drei Jahren öffentlich geäußert.

Letzteres ist eindeutig richtig. Am weitesten gingen dabei Richard Perle und David Frum mit ihrem im Dezember 2003 veröffentlichten Buch »An End to Evil. How to Win the War on Terror« (Dem Bösen ein Ende. Wie man den Krieg gegen den Terror gewinnt). In provozierend aggressiver, primitiv schwarzweißmalender, bewußt beleidigender Tonart beschuldigten die beiden Autoren 99 Prozent der amerikanischen Politiker und Meinungsmacher der Feigheit und der politischen Blindheit. Nur wenige nahmen sie von diesem vernichtenden Urteil aus: den Präsidenten, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, zwei oder drei weitere Spitzenfunktionäre des Pentagon und von den Politikern der Demokratischen Partei nur Joe Lieberman. Zwei Jahre nach dem Schock des 11. September 2001 hätten die Politik- und Medieneliten der USA die Lust am »Krieg gegen den Terror« verloren, behaupteten Perle und Frum. Als Gegenstrategie stellten sie ein Panoptikum abenteuerlicher Vorschläge vor. So etwa eine Militärintervention in Saudiarabien und die vollständige wirtschaftliche und politische Isolierung Frankreichs.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die meisten tonangebenden Neokonservativen – das gilt natürlich nicht für diejenigen, die Regierungsämter haben oder hatten – sich tatsächlich schon seit etwa Sommer 2003 in offener Opposition zur Bush-Regierung befinden. Kern dieser Opposition ist die Kritik, daß die Regierung nicht aggressiv genug vorgeht und daß sie viel zuviel Rücksicht auf andere Staaten – die Europäer, aber auch Rußland und China – nimmt. Nichts daran läßt sich vernünftigerweise so interpretieren, daß auch nur ein relevanter Prozentsatz von ihnen heute den angerichteten Schaden selbstkritisch reflektieren würde. Die Legende vom »Ende der Neocons« ist ein evident den Tatsachen widersprechender Schwindel. Er geht von der Demokratischen Partei der USA und den ihnen nahestehenden Medien aus, und er liegt auf gleicher Ebene wie die seit der Kongreßwahl permanent wiederholten Behauptungen, es stehe ein grundlegender Wandel der US-amerikanischen Irak-Politik bevor.
Konservative und Neokonservative
Vor über zehn Jahren, im Januar 1996, veröffentlichte die rechte Propagandazentrale American Enterprise Institute einen sehr bemerkenswerten Vortrag, der den schlichten Titel trägt: »Neoconservativism – A Eulogy« (Neokonservativismus – Eine Grabrede). Autor war ein Mann, der zu Recht als einer der Gründerväter dieser Strömung gilt: der 1930 geborene Norman Podhoretz. Aus der linken Studentenbewegung der frühen sechziger Jahre kommend, war Podhoretz mitsamt der von ihm herausgegebenen intellektuellen Zeitschrift Commentary in kurzer Zeit zum äußersten rechten Rand der US-amerikanischen Politik hinübergeschlittert. Viele Neokonservative haben einen ähnlichen Lebenslauf hinter sich. Podhoretz ist immer noch einer der scharfsinnigsten Analytiker und Theoretiker des Neokonservativismus. Seine bald elf Jahre alte »Grabrede« kann als Beispiel dafür gelten.

»Der Neokonservativismus ist tot«, verkündete Podhoretz zu Beginn seines Vortrages provokativ zugespitzt. Um diese These zu begründen, ließ er zunächst die Entwicklungsgeschichte der Neocons seit Ende der sechziger Jahre kurz Revue passieren. Konstituiert hatte sich die Strömung ursprünglich aus Liberalen und aus Linken, die sich der Demokratischen Partei verbunden fühlten, vielfach auch sehr aktiv für diese tätig waren. Innen- und außenpolitische Gründe hatten sie dann veranlaßt, sich zunächst auf den äußersten rechten Flügel der Demokraten zu konzentrieren und etwas später, überwiegend in der Mitte der siebziger Jahre, zu den Republikanern zu wechseln.

Was waren die wesentlichen Punkte, in denen sich in der damaligen Konstituierungsphase die Neokonservativen vom traditionellen Konservativismus, wie ihn vor allem die Republikanische Partei repräsentiert, unterschieden, fragte Podhoretz sodann in seinem Vortrag. Folgende Differenzen hob er als wesentlich hervor: Die Neokonservativen teilten erstens, aufgrund ihrer persönlichen Herkunft aus der Linken, der Arbeiterbewegung oder der Demokratischen Partei, nicht die totale Ablehnung des Sozialstaats durch den herkömmlichen Konservativismus und die Republikaner. Und während diese den Gewerkschaften insgesamt feindlich gegenüberstehen und sie für völlig überflüssig halten, bewahrten die Neokonservativen zunächst ein positives Verhältnis zu den Gewerkschaften, insbesondere zu deren antikommunistischem und antisowjetischem Flügel. Zweitens waren die Neokonservativen, oft schon in ihrer mehr oder weniger linksradikalen Vergangenheit, von äußerster Feindseligkeit gegen die Sowjetunion erfüllt. Ihre diesbezüglichen Positionen waren sehr viel aggressiver als die des republikanischen Mainstreams. Sie übernahmen deshalb in den siebziger Jahren, wie Podhoretz in seinem Vortrag sagte, »die Führung beim Auftreten gegen die Illusionen der Rüstungskontrolle und für eine stärkere nationale Verteidigung angesichts der großen Aufrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion«. Ein drittes zentrales Motiv für die Formierung der Neokonservativen war laut Podhoretz ihre Opposition gegen die vor allem von der Studentenbewegung der sechziger Jahre geprägte »Gegenkultur«, vor der damals die Demokratische Partei und die ihr nahestehenden Medien »kapituliert« hätten.

Podhoretz zog in seiner »Grabrede« das Fazit: »Betrachtet man nun diese Liste von Dingen, die den Neokonservativismus damals neu und anders machten, so wird offensichtlich, daß er nicht mehr länger als neues, besonderes Phänomen existiert, das einen eigenen Namen verdient.« So gebe es beispielsweise keinen nennenswerten Unterschied mehr zwischen alten Konservativen und Neocons in der absoluten Ablehnung des Sozialstaats. In Grundfragen der Außenpolitik und der Verteidigung traditioneller Werte gegen die »Gegenkultur« hätten sich die Neokonservativen weitgehend durchgesetzt; ihre Auffassungen seien nunmehr konservativer, republikanischer Mainstream. Auf der anderen Seite, so Podhoretz weiter, gebe es zu vielen neu aufgetauchten außenpolitischen Problemen keine einheitliche Linie der Neokonservativen mehr. »Es ist unmöglich geworden, eine neokonservative Position zu, sagen wir beispielsweise, Bosnien oder zur Frage der NATO-Erweiterung oder zum Umgang mit China zu definieren. Früher hätte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen können, wo jeder beliebige Neokonservative zu fast allen ernsthaften Themen der Weltpolitik stand. Heute hingegen würde es mich schwer ankommen, vorauszusagen, wo selbst einige meiner engsten Freunde stehen, wenn es um ein problematisches Thema wie Bosnien geht.«

Neuorientierung nach 1991

Podhoretz bezog sich damit auf die Tatsache, daß den Neokonservativen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des von ihr geführten »sozialistischen Lagers« das ganz große Thema abhanden gekommen war, mit dem man gut 20 Jahre lang die eigenen Reihen zusammengehalten hatte. An die Stelle des vereinheitlichenden Zentralthemas war zu dieser Zeit noch kein neuer außenpolitischer Konsens der neokonservativen Strömung getreten.

An seine Bestandsaufnahme schloß Podhoretz das Fazit an: Die bestehenden Unterschiede zum traditionellen Konservativismus reichten nicht aus, »um den Neokonservativismus ins Leben zurückzurufen. (...) Ich habe gute Gründen, sein Hinscheiden zu betrauern. Und doch muß ich gestehen, daß mir sein Tod mehr ein Anlaß zum Feiern als für Traurigkeit zu sein scheint. Denn was den Neokonservativismus umgebracht hat, war keine Niederlage, sondern ein Sieg. Er starb nicht an seinem Versagen, sondern an seinem Erfolg.«

Das konnte 1996, im Rückblick auf den Triumph der USA im Kalten Krieg über die Sowjet­union, an dem die Neokonservativen erheblichen Anteil hatten, mit einigem Recht so formuliert werden. Auf die heutige Situation hingegen ließe sich dieses Fazit nicht ziehen. Und doch können die Neocons in der Krise, in der sie schon seit Sommer 2003 stecken, zweierlei zu ihren Gunsten konstatieren: Erstens will derzeit niemand die mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak geschaffenen Fakten rückgängig machen. Selbst die führenden Politiker der Demokraten sprechen sich, wenn auch verklausuliert, dafür aus, beide Kriege auf unbegrenzte Zeit fortzusetzen, nämlich bis zu einem »Erfolg«. An der Richtung, in der die Neokonservativen die Entwicklung im gesamten Nahen und Mittleren Osten angeschoben haben, wird sich also in absehbarer Zeit nichts ändern. Der Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen) als sich selbst erfüllende Prophezeitung hat bereit eine beträchtliche Eigendynamik aufgebaut. Zweitens lagen zentrale außenpolitische Anliegen der Neokonservativen schon in den neunziger Jahren keineswegs so weit entfernt vom politischen Mainstream, wie es angesichts mancher exzentrischer Äußerungen scheinen konnte. Dem Überfall auf den Irak-Krieg 2003 beispielsweise hatte vorab die Mehrheit der demokratischen Abgeordneten und Senatoren in Form eines Kriegsermächtigungsgesetzes zugestimmt. Führende Politiker der Demokraten wie Hillary Clinton – möglicherweise Präsidentschaftskandidatin in zwei Jahren – und John F. Kerry – Wahlgegner von Bush vor zwei Jahren – halten auch im Rückblick an ihrem Ja zum Krieg fest. Beim Aufbau eines Kriegsszenarios gegen den Iran herrscht eine große Koalition zwischen Republikanern und Demokraten.

Wenige Monate nach der »Grabrede« von Podhoretz veröffentlichten zwei prominente Neocons, William Kristol und Robert Kagan, im Sommer 1996 einen programmatischen Text unter dem Titel »Toward a Neo-Reaganite Foreign Policy« (Für eine neo-reaganistische Außenpolitik). Die Präsidentschaft Ronald Reagans (1981–1989) gilt den Neocons bis heute als goldenes Zeitalter. Der Aufsatz von Kristol und Kagan wurde zum Signal einer Wiederbelebung und Neuorientierung des Neokonservativismus. Am 26. Januar 1998 forderten zahlreiche führende Neocons und andere Republikaner in einem offenen Brief an Präsident William Clinton erstmals den Einsatz militärischer Gewalt zum Sturz Saddam Husseins. Die Neokonservativen hatten ihr neues Zentralthema gefunden, das sie nach dem 11. September 2001 zum »Weltkrieg« gegen den »Islamofaschismus« ausweiteten.

Teil II: Stichwortgeber

Ihr unfreiwilliger Rückzug aus dem Bush-Regierungsapparat ermöglicht ihnen ein Dirigieren des US-Präsidenten, ohne ihn wahlwirksam zu kompromittieren

Zum Jahresende scheidet John Bolton, der Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen, aus dem Amt. Er ist einer der letzten Neokonservativen, die sich noch in einem einflußreichen Amt befinden. George W. Bush und Condoleezza Rice hatten Bolton als rücksichtslosen Hardliner und notorischen Verächter der UNO für den richtigen Mann gehalten, um den Führungsanspruch der USA in der Weltorganisation durchzusetzen.

Nicht allen leuchteten diese Vorzüge Boltons ein. Im Senat, der der Ernennung zustimmen mußte, äußerten nicht nur die oppositionellen Demokraten, sondern auch mehrere republikanische Parlamentarier schwere Bedenken gegen den Kandidaten. Am 7. März 2005 hatte Bush dem Senat die Ernennung vorgeschlagen, aber das Hohe Haus ging ohne Entscheidung in die Sommerpause. Der Präsident nutzte diese Zeit, um Bolton am 1. August 2005 zum UN-Botschafter zu machen. Rechtlich geht das. Diese Ernennung erlischt aber mit dem Ende der Amtszeit des Senats im Januar 2007, sofern sie bis dahin nicht bestätigt wird.

Nach der für die Republikaner unglücklich verlaufenen Kongreßwahl vom 7. November kündigte Bush zunächst an, er werde Boltons Ernennung noch während der Amtszeit des alten Senats, in dem die Republikaner die Mehrheit haben, erneut zur Abstimmung stellen. Die Demokraten antworteten mit der Ankündigung, sie würden eine Bestätigung Boltons auf die gleiche Weise wie im Sommer verhindern. Indem sie damit drohen, die Debatte endlos in die Länge zu ziehen und dadurch den Senat lahmzulegen. 60 von 100 Senatoren wären nötig, um diese Taktik zu durchkreuzen und eine sofortige Abstimmung zu erzwingen. Offenbar wollte Bolton es aber darauf nicht mehr ankommen lassen, wie das Weiße Haus am 4. Dezember mitteilte.

Der wichtigste »überlebende« Neokonservative in einem Regierungsamt ist jetzt der 58jährige Elliot Abrams. Auf seinen Schultern ruhen, wie es das Magazin Newsweek am 4. Dezember ausdrückte, die Hoffnungen aller Neocons. Abrams ist seit Februar 2005 stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater. Er ist der wichtigste Berater des Präsidenten für die Nahostpolitik und häufiger Begleiter von Außenministerin Rice auf ihren Reisen in der Region, beispielsweise während des Libanon-Krieges. Als wandelnder Affront verkörpert und demonstriert er die absolute Einseitigkeit der US-Regierung in allen israelisch-arabischen Konflikten.

Abrams begann seine Karriere in den frühen achtziger Jahren unter Präsident Ronald Reagan. Damals war er im Außenministerium zunächst Unterstaatssekretär für Menschenrechte und anschließend für interamerikanische Angelegenheiten, also für die Beziehungen zu den Staaten Mittel- und Südamerikas. In beiden Funktionen soll er, so die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International, immer wieder Verbrechen der Militärs in El Salvador, Honduras und Guatemala sowie der Contras in Nicaragua gedeckt und beschönigt haben.

Weniger bekannt als Abrams ist ein weiterer »überlebender« Neocon, David Wurmser. Er ist Nahostberater von Vizepräsident Dick Cheney. Zuvor war er Sonderassistent von John Bolton, als dieser noch im Außenministerium tätig war. Wurmser gehörte, ebenso seine Frau Meyrav, im Jahr 1996 zu dem vom Vordenker der Neokonservativen, Richard Perle, geleiteten Team, das für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vom rechten Flügel des Likud-Blocks das berühmt gewordene Strategiepapier »A Clean Break« (Ein sauberer Abbruch) verfaßte. Zentrale Vorschläge waren der Abbruch des Friedensprozesses mit den Palästinensern und der Sturz Saddam Husseins.

Ein weiteres Mitglied dieser Arbeitsgruppe war Douglas Feith, der von Juli 2001 bis August 2005 Staatssekretär für Politik im Pentagon war.

Neokonservativismus ohne Neocons

Bleiben also von den Positionen, die die Neokonservativen unter der Präsidentschaft von George W. Bush gewonnen hatten, im wesentlichen nur noch zwei übrig? Abrams und Wurmser? Dagegen läßt sich einiges einwenden. Beispielsweise, daß es kaum möglich ist, die frühere Sicherheitsberaterin und jetzige Außenministerin ­Condoleezza Rice noch von einer Neokonservativen zu unterscheiden, auch wenn sie ursprünglich in einer anderen Seilschaft war, nämlich in der der »Realisten«, die 1989–1993 unter dem der Vater des jetzigen Präsidenten tonangebend waren. Rices Äußerungen während der israelischen Luftangriffe auf den Libanon im Sommer dieses Jahres – das seien »die Geburtswehen eines neuen Nahen Osten« – weisen sie eindeutig als Anhängerin neokonservativer Vorstellungen aus, bei denen der angeblich gute Zweck auch große Menschenopfer rechtfertigt, ja geradezu erfordert.

Ein ganz sicherer Verbündeter der Neokonservativen in der Regierung ist Vizepräsident Dick Cheney, der gleichfalls zu den »Realisten« gehörte. Unter Bush senior war er Verteidigungsminister. 1997 gründete er zusammen mit zahlreichen namhaften Neokonservativen das Project for the New American Century. Daß Cheney im allgemeinen nicht als Neocon gilt, ist sachlich nicht zu begründen.

Und der Präsident selbst? William Kristol, Herausgeber des Weekly Standard und Sohn des Neocon-Urvaters Irving Kristol, formulierte es jüngst etwas überschwenglich und vereinnahmend: »Ich glaube, Bush ist der letzte Neocon an der Macht.« Diese Aussage ist von der Gewißheit getragen, daß es den Neokonservativen nach dem 11. September 2001 gelungen ist, den außenpolitisch ebenso unerfahrenen wie unsicheren Bush für ihre Strategie einzuspannen. Die Bush-Doktrin, deren Kern schon in der ersten Kongreßrede des Präsidenten nach dem Anschlag, gehalten am 20. September 2001, entwickelt wurde, zeugt davon: »Wir werden Staaten verfolgen, die den Terroristen Hilfe oder Unterschlupf gewähren. Jede Nation in jeder Region muß nun eine Entscheidung treffen. Entweder sind sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen. Von diesem Tage an wird jeder Staat, der weiterhin Terroristen unterstützt oder ihnen Unterschlupf gewährt, von den USA als feindliches Regime betrachtet.«

Die Bush-Doktrin fand ihre Fortsetzung in der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation am 29. Januar 2002. Den Text hatte weitgehend der neokonservative Präsidentenberater David Frum geschrieben. Von ihm stammt auch der Begriff »Achse des Bösen«, mit dem Bush in seiner Rede Irak, Iran und Nordkorea bezeichnete. In dieser Rede kündigte Bush an: »Ich werde nicht auf die Ereignisse warten, während sich Gefahren zusammenballen. Ich werde nicht ruhig danebenstehen, während das Verderben immer näher kommt. Die Vereinigten Staaten werden es den gefährlichsten Regimes der Welt nicht gestatten, uns mit den zerstörerischsten Waffen der Welt zu bedrohen.« Die seit der Kongreßwahl vom 7. November geführten Diskussionen über eine »neue Strategie« im Irak bestätigen, daß Präsident Bush im wesentlichen weiter der von den Neokonservativen angeschobenen Politik folgt, auch wenn es sich dabei in personeller Hinsicht immer mehr um einen Neokonservativismus ohne Neokonservative handelt.

»Fürst der Finsternis« geht von Bord

Tatsache ist, daß die Neocons inzwischen viele wichtige Posten im Regierungsapparat verloren haben. Den Anfang machte die langjährige »graue Eminenz« des Neokonservativismus, Richard Perle, der seit seiner Arbeit für die Reagan-Regierung den Spitznamen »Prince of Darkness« trägt. Kurz nach Beginn des Irak-Krieges mußte Perle Ende März 2003 seinen Rücktritt als Vorsitzender des Defense Advisory Board, einer hochrangig besetzten Beraterrunde des Pentagon, erklären. Mit diesem Schritt versuchte Perle, der von Kongreßabgeordneten der Demokraten geforderten Untersuchung seiner Geschäftsbeziehungen zu entgehen. Die Mitglieder des Defense Advisory Board haben zwar kein offizielles Amt, aber einen ähnlichen Status, der sie zur Einhaltung bestimmter Regeln verpflichtet. Diese sollen die Vermischung politischer Einflußmöglichkeiten mit Geschäftsinteressen verhindern. Dagegen hatte Perle massiv verstoßen.

Aber auch politisch hatte er sich in Mißkredit gebracht. Für Aufsehen hatte besonders ein Referat gesorgt, das auf Einladung Perles im Juli 2002 auf einer Sitzung des Defence Policy Board gehalten wurde. Die Sitzungen des Beratungsgremiums sind nicht öffentlich, ihr Inhalt muß von den Teilnehmern streng vertraulich behandelt werden. In diesem Fall aber wurden der Washington Post gezielt Informationen zugespielt, über die das Blatt am 6. und 7. August 2002 berichtete. Laurent Murawiec, ein Analyst des konservativen Think Tanks Rand, hatte in seinem Referat Saudiarabien als »Kern des Übels« und »gefährlichsten Gegenspieler« der USA im Nahen Osten bezeichnet. Er forderte, die USA sollten dem saudischen Regime ein umfassendes Ultimatum stellen – u.a. Einstellung der Unterstützung fundamentalistischer Institutionen in aller Welt, Verzicht auf antiamerikanische, antiisraelische und antiwestliche Stellungnahmen – und bei Nichtbefolgung die saudiarabischen Ölquellen besetzen sowie die Geldanlagen der Saudis im Ausland beschlagnahmen.

Der Skandal, den dieser Vorgang auslöste, weist auf eine Bruchstelle zwischen Teilen der Neocons und der offiziellen Regierungspolitik der USA hin: Die Bush-Familie ist über Öl­interessen mit Saudiarabien eng verbunden, die Beziehungen zu den Saudis stehen nicht zur Disposition. Die Bedeutung des auf der arabischen Halbinsel gelegenen Landes als eine Hauptstütze der amerikanischen Nahostpolitik hat aufgrund der Krisen, in die sich die Bush-Regierung selbst hineinmanövriert hat, in den letzten Jahren sogar noch erheblich zugenommen. Vor allem als Gegengewicht gegen den Iran sowie die irakischen und libanesischen Schiiten soll das sunnitisch-fundamentalistische Saudiregime ins Spiel gebracht werden, wofür es mit dem ganz und gar falschen Titel »gemäßigt« geadelt wird.

Im Februar 2004 zog sich Richard Perle aus dem Defense Policy Board, dem er 17 Jahre lang angehört hatte, ganz zurück. In einem Brief an Verteidigungsminister Rumsfeld begründete er seine Entscheidung damit, daß er im Wahljahr mit seinen »kontroversen« Ansichten keine Belastung für den Präsidenten darstellen wolle. Er wolle sich mit seinem Rückzug auch die Freiheit bewahren, seine Ansichten weiter zu verkünden, ohne daß diese in den Präsidentschaftswahlkampf hineingezogen werden könnten.
Krise als Chance
Das kann man auch als Schlüsselsatz nehmen, um den widersprüchlichen Charakter der Krise zu verstehen, in der sich die Neokonservativen schon seit dem Sommer 2003 befinden. Damals wurde deutlich, daß der Irak-Krieg alles andere als ein cakewalk als ein Kinderspiel werden würde, als den ihn der Neokonservative Kenneth Adelman ein Jahr zuvor angepriesen hatte. Auch die Prophezeiung von Richard Perle, die US-Truppen würden von den Irakern mit Blumen und süßem Gebäck als Befreier empfangen werden, hatte sich nicht erfüllt.

Darüber hinaus hatten sich die Neocons nicht mit ihrer Forderung durchgesetzt, den Enthusiasmus der US-amerikanischen Öffentlichkeit über den scheinbar schnellen Sieg im Irak zu nutzen, um aus der Mobilisierung der Streitkräfte heraus sofort anschließend auch Syrien und Iran anzugreifen. Anstelle der von den Neocons gepredigten Strategie permanenter militärischer Alleingänge traten diplomatische Bemühungen, um in kommende weitere Kriege die NATO-Partner, aber auch den UNO-Sicherheitsrat von vornherein stärker einzubinden. Das widersprach der Vorstellung der meisten Neokonservativen, das »alte Europa« (also vor allem Frankreich und Deutschland) außenpolitisch zu isolieren und die UNO künftig ganz zu ignorieren.

Richard Perles monatelanges Abtauchen aus der großen Politik nach seinem politischen und ökonomischen Mißgriffen im März 2003 war nicht nur Ergebnis der Tatsache, daß er beim Geldabgreifen erwischt worden war, sondern weist auch auf ein generelles Problem der Neocons hin: Sie haben in den letzten zehn Jahren, und ganz besonders seit dem 11. September, eine glänzend organisierte, sehr effektive Politik betrieben. Damit haben sie aber auch zwangsläufig viel Aufmerksamkeit auf ihr Netzwerk gezogen – mehr als ihnen selbst lieb sein kann. Sie haben sich einen Ruf als hemmungslose Kriegstreiber erworben, und die meisten Lügen, mit denen der zweite Irak-Krieg vorbereitet wurde, lassen sich eindeutig auf neokonservative Verbreiter zurückführen. Mehr noch, man erinnert sich in diesem Zusammenhang, daß die Neocons auch schon bei der Anbahnung des ersten Irak-Krieges von 1991 eine maßgebliche Rolle spielten.«

Vor diesem Hintergrund enthielt die Entfernung aus Regierungsämtern und der damit einhergehende scheinbare Machtverlust für die Neokonservativen auch die Chance, ohne den Ballast taktischer Rücksichtsnahmen die Politik der Bush-Administration ganz offen von rechtsaußen zu kritisieren und ihre eigenen, teilweise sehr exzentrischen Vorstellungen vorzutragen, ohne dadurch unmittelbar die Regierung zu kompromittieren.

Auf den Rücktritt von Richard Perle folgten, um nur die wichtigsten zu nennen: Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, der im Januar 2005 mit dem Posten des Weltbankpräsidenten abgefunden wurde; Pentagon-Unterstaatssekretär Douglas Feith, der im August 2005 gehen mußte; und schließlich im Oktober 2005 Vizepräsident Cheneys Stabschef Lewis Libby, der wegen seiner Verstrickung in die böswillige Enttarnung einer CIA-Agentin unter Anklage gestellt wurde.
An Rückschläge gewöhnt
Wenn der Verlust von Regierungsmacht gleichbedeutend mit dem »Ende der Neocons« wäre, von dem jetzt viel fabuliert wird, hätte man es spätestens vor einem Jahr konstatieren müssen und nicht erst nach der Kongreßwahl vom 7.November. Aber die nunmehr rund vierzigjährige Geschichte des Neokonservativismus zeigt, daß diese Strömung am Verlust von Regierungsmacht keineswegs zugrunde geht. Maßgebliche Neocons befanden sich schon einmal, unter Ronald Reagan (1981–1989), im Zentrum der Macht. Unter George Bush senior (1989–1993) waren nicht nur ihre personelle Teilhabe an der Regierung, sondern vor allem auch ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten sehr viel geringer als unter Reagan. Und mit dem Amtsantritt von William Clinton am 20. Januar 1993 verloren die Neokonservativen für die folgenden acht Jahre vollständig die direkte Teilhabe an der Regierungsmacht.

Umgebracht hat sie das nicht, wie sich im Rückblick zweifelsfrei konstatieren läßt. Eher ist das Agieren aus der Opposition heraus eine Stärke der Neocons. Denn es ermöglicht ihnen, wie in den Clinton-Jahren, die Regierung permanent als »zu weich« anzugreifen und damit an den latent aggressiven US-Patriotismus zu appellieren, ohne den Praxisbeweis für das Funktionieren ihrer eigenen radikalen Forderungen antreten zu müssen und Verantwortung für gescheiterte Experimente zu tragen. In einer solchen Situa­tion ist es für die Neocons vergleichsweise leicht, die politisch-ideologische Hegemonie über das gesamte rechte Lager, einschließlich der traditionellen Konservativen und der christlichen Fundamentalisten, der sogenannten Evangelikalen, zu erringen.

Die Evangelikalen stellen auch in Zukunft einen sicheren Rückhalt für die Vorstellungen der Neokonservativen dar, jedenfalls soweit es um die zentralen Punkte der Nahostpolitik geht. Denn dieses Lager, dem zwischen 30 und 50 Millionen Wähler zugerechnet werden, reagiert reflexartig, sobald angebliche Bedrohungen Israels beschworen werden, um aggressive Handlungen zu rechtfertigen.

Ein ähnlich zuverlässiger Aktivposten für die Neocons ist die Pro-Israel-Lobby, vertreten durch den American Israel Public Affairs Committee und die größten jüdischen Organisationen der USA, die sich in den neunziger Jahren zu Sprachrohren der israelischen Rechten entwickelt haben, während sie früher parteipolitische Neutralität zu wahren versuchten. Es ist, soweit es die zentralen Themen der Nahostpolitik angeht, unmöglich, Unterschiede zwischen den Neokonservativen und der Pro-Israel-Lobby auszumachen. Vor allem hinsichtlich der nächsten anstehenden Aufgabe, der Erzwingung eines »regime change«, eines Regierungswechsels im Iran, sind sie sich absolut einig.

Ein weiterer Faktor, der den Einfluß der Neokonservativen auch künftig sichert, sind die von ihnen maßgeblich beeinflußten Think Tanks – darunter an erster Stelle das American Enterprise Institute (AEI), das führend bei der Mitgestaltung der US-amerikanischen Regierungspolitik ist. Die Liste der AEI-Autoren und -Referenten weist nach wie vor zahlreiche prominente Neokonservative aus – unter ihnen Richard Perle, David Frum, Irving Kristol und Michael Ledeen, der unermüdliche Haßprediger gegen den Iran.

Auf zwei zentrale Themen konzentrieren sich derzeit die Aktivitäten der Neokonservativen. Das eine Ziel besteht darin, jeden noch so halbherzigen Schritt in Richtung Ausstieg aus dem Irak-Krieg zu verhindern. Die Neocons sind daher führend in der Polemik gegen die Vorschläge der Baker-Arbeitsgruppe. Ihr zweites Ziel besteht darin, Bush während seiner Amtszeit, die im Januar 2009 ausläuft, zu Militärschlägen gegen Iran zu veranlassen, um unabhängig vom Ausgang der nächsten Präsidentschaftswahl irreparable Fakten zu schaffen. Ihre Chancen, beide Ziele zu erreichen, stehen leider gut – auch dank der komplizenhaften Haltung führender Politiker der Demokratischen Partei.