Im Gespräch

Sie haben das Tor zur Hölle aufgestoßen

TIEFE KLUFT- Der arabische Friedensaktivist Magdi Gohary über die Ohnmächtigen und Übermächtigen im Nahen Osten und mögliche Folgen einer Ausweisung Yassir Arafats

FREITAG, 19.09.2003

FREITAG: Sie treten bei unzähligen Veranstaltungen als Redner auf, man ruft Sie jetzt ständig, wie in den sechziger und siebziger Jahren.
MAGDI GOHARY: Für jemanden, dem der ganze antikoloniale Kampf gegenwärtig ist, der ihn studiert, ja verinnerlicht hat - und bei mir ist das der Fall - ist nicht so neu, was jetzt geschieht. Neu ist, dass ein Verhältnis von Ohnmacht und Übermacht derart krass wurde. Eine arabische Kavallerie konnte irgendwie den gut gerüsteten britischen oder französischen Truppen begegnen, aber heute ist es so: Man ist auf dem Boden, die anderen sind in der Luft. Das Missverhältnis ist brutal. Und das verändert sowohl die Ohnmächtigen als auch die Übermächtigen. So akzeptiert die israelische Regierung einfach nicht, dass sie, obwohl sie über die modernsten Waffen verfügt und die stärkste Militärmacht der Welt uneingeschränkt auf ihrer Seite hat, diese besetzten Palästinenser nicht in den Griff kriegt. So etwas macht die Übermächtigen verrückt, macht sie wütend.

Die Ohnmächtigen haben auch eine Waffe.
Ja. Ihr Leben. Was denkt ein Selbstmordattentäter? Ich verfüge über mein Leben und kann es einsetzen, dagegen hast du Übermächtiger keine Waffe. In den wenigen Sekunden, bevor ich auf den Knopf drücke, bin ich mächtiger als du. Vorher nicht und nachher interessiert es mich nicht mehr. Du kannst mir jeden Tag vorführen, dass ich der letzte Dreck bin, aber ein einziges Mal bin ich mächtiger als du. Das ist die Botschaft. Es gibt eine neue Qualität der asymmetrischen Auseinandersetzung in der Welt von heute.

Der palästinensische Widerstand wird weltweit als Terror eingestuft, das ist Israel gelungen. Nun soll das Gleiche im Irak passieren. Wenn es zur Internationalisierung der Besatzung kommt, wie die Amerikaner es wollen, was nichts anderes heißt, als ihnen zu helfen, aus dem Sumpf heraus zu kommen, dann wird jeder Widerstand gegen dieses internationale Cover als Terror bezeichnet werden.

Über den jetzigen Widerstand im Irak kann man sich aber kaum wirklich freuen ...
Ich freue mich schon. Ja. Denn Völker müssen atmen können. Ich freue mich, dass im Nahen Osten immer dann, wenn die Herrschenden weg oder ohnmächtig sind, die Völker souverän reagieren. Das ist wunderbar. Die Palästinenser haben fast keine Regierung, aber sie reagieren und leisten Widerstand. Und die Iraker, die unter Saddam alles erduldet haben, ohne viel dagegen zu tun, leisten jetzt Widerstand. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich in den Nachrichten höre, dass der Widerstand läuft.

Auch wenn irgendwo ein Attentat verübt wird und -
Ich mache den Irakern keine Vorschriften, wie sie ihren Widerstand zu leisten haben. Wieso eigentlich streitet man den Iraker das Recht ab, mit der Waffe in der Hand gegen die Besatzer vorzugehen? Wer hat die Katze aus dem Sack gelassen? Wer hat den Geist aus der Flasche geholt? Wo die Amerikaner eingreifen, folgt ihnen der islamische Fundamentalismus nach. Weil sie ein Vakuum schaffen. Und ein Vakuum wird immer gefüllt, sofort.

Mit welchen Gefühlen haben Sie denn im April die Bilder vom Einmarsch der Amerikaner in Bagdad gesehen?
Es gibt ja Menschen, die sagen: als die Amerikaner in Bagdad einmarschierten, war ich froh und unglücklich zugleich. Froh, dass der Despot verschwunden ist. Unglücklich, weil ich gegen die Politik der USA bin. Ich kann das nicht teilen, ich war überhaupt nicht erleichtert. Das hat nichts mit Saddam zu tun. Ihn habe ich kritisiert, als er noch der Freund des Westens war. Doch Genugtuung über die Beseitigung eines despotischen Regimes hat bei mir in diesem Moment weniger eine Rolle gespielt. Nicht, dass ich es mir nicht wünschte, aber: in diesem Augenblick war historisch entscheidend, dass eine arabische Hauptstadt besetzt wird.

Auch wenn dadurch ein Regime fiel, das so lange herrschte und immer unerträglicher wurde?
Aber doch nicht durch fremde Truppen, die alles andere im Sinn hatten als eine Befreiung der Iraker. Das war eine falsche Befreiung, deshalb teile ich diese Freude nicht. Wenn es die Iraker jetzt schaffen, die Amerikaner abzuschütteln und ein eigenes Regime zu schaffen, dann werde ich mich für sie von ganzem Herzen freuen.

Denn Besatzung ist strukturierte Gewalt, in jedem Moment des täglichen Lebens. Und dort, wo Menschen vergessen, dass es sich in Palästina um eine Besatzung handelt, beginnt für mich die Amoralität. Wenn die Leute stöhnen: "Beide Seiten haben Recht", dann zeugt das oft von Unfähigkeit, einen unbequemen Weg zu gehen. Das Fehlen dieser Doppelmoral ist der Grund dafür, dass es bei mir nie solche Wechsel der Positionen gab. Saddam ist für mich nur eine Nuance schlimmer als die Saudis oder andere Herrscher in der Welt. Die Amerikaner aber kommen aus dem Sumpf nicht raus, in dem sie versinken. Und ich freue mich, dass sie in diesem Sumpf stecken, denn wenn sie ihn zu schnell hinter sich bringen, haben sie die Hände wieder frei, eine andere Schandtat in Iran oder Syrien oder sonst wo zu begehen.

So ist heute - zynisch gesagt - den Irakern die Rolle zugefallen, die Amerikaner zu binden, damit die anderen Völker etwas Luft schnappen können. So denkt natürlich kein irakischer Widerständler. Für uns hingegen stellt sich die Frage, wie man den Irakern helfen kann, das Land zu stabilisieren, ohne nachträglich den Krieg und die Besatzung zu legitimieren.

Auf welche Weise wirkt nun der Irak-Krieg auf Israel und Palästina zurück?
Die Think Tanks in den USA, die vor zehn Jahren in die Hände der Erzkonservativen geraten sind, haben schon seit langem die Theorie entwickelt: Wenn das Regime im Irak zerschlagen wird, dann werden die arabischen Staaten sich mit Israel arrangieren müssen, zu israelischen Konditionen: mit dem Flickenteppich eines Palästinenser-Staates, um den ein Zaun gezogen wird. Diese Idee kam ungeheuer gut bei der neuen US-Administration an, aber sie war falsch.

In Wirklichkeit ist der strategische Wert Israels nach dem Irakkrieg gesunken, weil bewaffnete westliche Soldaten im Nahen Osten aufgekreuzt sind, die bisher einen Stellvertreter brauchten. Manche Israelis registrieren das sehr genau. Letztlich wissen sie: Die Amerikaner kommen und gehen, wir aber leben hier. Die Israelis müssen sich von den USA emanzipieren.

Ist die beabsichtigte Ausweisung von Arafat ein solcher Akt der Emanzipation?
Damit haben sie das Tor zur Hölle aufgestoßen, aber vielleicht wollen die Israelis genau das, um die Palästinenser in eine Schicksalsschlacht zu treiben.

Die Palästinenser sind Ausgesetzte, Vogelfreie.
Und doch bleiben sie standhaft und verharren in ihren Dörfer und Städten. Das ist ihr Widerstand. Es ist zum Himmel schreiend ungerecht, wenn man den palästinensischen Widerstand auf das Phänomen Selbstmordattentäter reduziert. Sie gehen nicht weg, das ist ihre Tat. Die Palästinenser sind sehr reif, und jeden Tag tragen die Israelis dazu bei, dass sie politisch reifer werden. Sie werden auch nicht - wie die Israelis das ständig forcieren und erwarten - einen Bürgerkrieg beginnen.

Wäre ein Bürgerkrieg unter den Palästinensern naheliegend?
Mit einer Entwaffnung von Hamas und Islamischem Jihad wäre er da. Darum wiederholen die Israelis diese Forderung täglich. Aber auch Abbas als Premier nach Maß hat ihren Wunsch nicht erfüllt. Wenn Arafat nur ein einziges Verdienst hätte, wäre es die Verhinderung dieses Bürgerkrieges. Deshalb wollen sie ihn weghaben. Kissinger soll einmal gesagt haben, wir brauchen lokale Konflikte auf der Welt, die uns erlauben zu intervenieren. Aber sie müssen beherrschbar bleiben, dürfen nicht ausufern. Ein Bürgerkrieg unter den Palästinensern wäre ein Konflikt nach Kissingers Geschmack.

In dieser Situation würden die Palästinenser wohl wenig Unterstützung von arabischer Seite erhalten?
Wen meinen Sie - die Regierungen oder die Völker? Die Palästinenser hatten noch nie so viel Sympathie bei den Arabern wie heute, das hat alle Schichten erfasst. Gerade, weil es gegen die eigenen Regierungen geht. Seit der Besetzung einer arabischen Hauptstadt haben sich die Seelen verändert. Über dieses Phänomen haben die Amerikaner keine Sekunde nachgedacht. Zwei neue Konstanten sind wichtig: Die Menschen informieren sich nicht mehr über staatliche Kanäle, sondern über neue Fernsehsender wie Al Dschasira - das kommt einer Revolutionierung des Bewusstseins gleich. Die Macht der Regimes ist, was die Informationspolitik angeht, zerschlagen. Die zweite Konstante, wie ich es nenne, ist die Kluft zwischen Regierungen und Bevölkerungen: Sie ist so tief, wie noch nie in der modernen arabischen Geschichte. Weil die Ohnmacht dieser Regimes gegenüber Israel offensichtlich wurde, als Arafats Amtssitz von israelischen Panzern umstellt wurde, und man ihn nicht zum arabischen Gipfeltreffen ausreisen ließ. Die Maske fiel: Ihr seid nichts. Beim Irak-Krieg wiederholte sich das jüngst in großem Maßstab. Außer den Kuwaitis hat zwar keine arabische Regierung den Krieg offen unterstützt, aber heimlich wurde den Amerikanern doch geholfen. Nicht nur die Golfstaaten, auch Jordanien und Ägypten stellten ihre Ressourcen zur Verfügung. Die arabischen Führer verloren damit jede Glaubwürdigkeit. Die arabischen Völker dulden ihre Regierungen nur noch aus Angst und vor allem aus Mangel an Alternativen.

Würden sie zuschauen, wenn Sharon wirklich, seinem Plan folgend, die Palästinenser aus dem Land drängt, also die große Vertreibung des Jahres 1948 vollendet?
Nur Bush hätte im Moment noch die Macht, die Tragödie aufzuhalten. Aber er weiß ja nicht, was er tut.

Das Gespräch führte Marina Achenbach


Ein "homo politicus"

Mit 16 Jahren kam er aus Ägypten nach Österreich. Das Abitur hatte er früh abgelegt, es war für die Familie klar, der begabte Sohn sollte im Ausland studieren. England und Frankreich, Länder, an die man in Ägypten damals als erstes dachte, kamen für ihn als Aggressoren im Suezkrieg nicht in Frage. Er wählte Graz und begann dort 1956, Chemie zu studieren und verdiente sich während der Semesterferien im Ruhrgebiet sein Geld. Nach Ägypten kehrte er lange nicht zurück, blieb in München, heiratete, arbeitete als Chemotechniker in der Forschung eines Chemiekonzerns, engagierte sich in der Gewerkschaft, in der Antiapartheid-Bewegung und gemeinsam mit Exilpalästinensern für Aufklärung über den Konflikt im Nahen Osten - ein profunder Kenner dieser Themen.

1972 wurde Magdi Gohary plötzlich verhaftet, wegen "Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland". Vorausgegangen war die Geiselnahme der israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen von 1972 durch eine Gruppe von Palästinensern. Magdi wurde zur Vermittlung aufgefordert und war dann Zeuge, wie nach der ersten Gesprächsrunde eine Verhandlungsstrategie aufgegeben wurde, und die Befürworter einer Gewaltaktion das Heft in die Hand nahmen, was mit dem Tod fast aller Beteiligten endete. Zwei Wochen später wurde er festgenommen und nach zwei Tagen Haft in ein Flugzeug verfrachtet. Kein Anwalt konnte das aufhalten. Die bayerische Justizmaschine lief. Er war der einzige Ägypter neben 90 in diesen Tagen aus dem gesamten Bundesgebiet abgeschobenen Palästinensern.

16 Grenzschützer mit entsicherten Maschinenpistolen brachten ihn zum Flughafen. Irgendwo müsse etwas Furchtbares geschehen sein, dachte er noch, eine Attentatsserie, ein Krieg. Sie bugsierten ihn ins leere Flugzeug. Aber Pilot und Stewardess kamen, klopften ihm auf die Schulter und informierten ihn, wohin die Reise ging: nach Kairo. Und als die Passagiere einstiegen, brachten sie ihm viele Zettel mit: "Bald bist Du wieder bei uns" oder "Wir sind mit Dir." Sie stammten von Freunden, die eine halbe Nacht lang am Flughafen demonstriert hatten.

Erst über zwei Jahre später konnten er und seine Frau gerichtlich die Rückkehr nach München durchsetzen. Sein Betrieb stellte ihn wieder ein, später wurde er Betriebsratsvorsitzender, sein Aufenthaltsrecht musste er sich in elfjährigen Verfahren erstreiten, unter ständigem Ausweisungsdruck. Er sagt, er habe sich von der ersten Klasse an, schon mit vier Jahren, für Politik interessiert. Als er zehn Jahre alt war, 1952, begann in Ägypten die Revolution der freien Offiziere um Gamal Abd el Nasser - ein nationales Erwachen, die Abrechnung mit den Kolonialmächten, die Losung "arabisches Öl den Arabern", die Verstaatlichung des Suezkanals, die darauf folgende Aggression. Die Verbindung Ägyptens mit dem Ostblock. Das alles hat ihn geprägt.

Das Negative war in jener Zeit der Westen - Aggressionen, Blockade, Demütigungen. "Ich bin nicht antiwestlich, sondern ich bin ja in gewissem Sinne ein Westler. Doch in der Zeit, als ich mich hier gewerkschaftlich engagierte, erlebte ich Ähnliches: Staat, Verbände, Medien waren nie pro gewerkschaftlich. Die Innenpolitik ist wie die Außenpolitik. Man stößt leicht auf die soziale Frage, auf den Kapitalismus."

Magdi Gohary ist ein wirklicher homo politicus, der nicht darin nachlässt, die Welt zu beobachten und aus der Perspektive eines möglichen politischen Handelns zu bewerten. Nichts ist da gleichgültig oder fern, alles ist verbunden. Und der Maßstab ist immer Emanzipation, Freiheit, Befreiung.

M.A.