Uri Avnery
Nationalmythos Dschenin

Wie Israels Premier Ariel Scharon Grundlagen für den Staat der Palästinenser legt

junge Welt vom 18.04.2002
 
Vor 105 Jahren, am Tag nach dem ersten Zionistenkongreß in Basel, schrieb Theodor Herzl in sein Tagebuch: »In Basel habe ich den Staat der Juden gegründet.« Diese Woche sollte Ariel Scharon in sein Tagebuch schreiben: »In Dschenin habe ich den Staat der Palästinenser gegründet.«

Natürlich wollte er das nicht. Ganz im Gegenteil, seine Absicht war, die palästinensische Nation, ihre Institutionen und ihre Führung ein für alle Mal zu zerschlagen, nur noch Menschenschrott übrig zu lassen, über den man überall würde verfügen können.

Tatsächlich ist etwas ganz anderes geschehen. Die palästinensische Nation, konfrontiert mit dem Ansturm der größten Militärmaschinerie der Region und den modernsten Waffen der Welt, in einem Meer des Leidens, umgeben von Leichen, hat sich aufgerichtet wie nie zuvor.

In dem kleinen Flüchtlingslager bei Dschenin versammelte sich eine Gruppe von Palästinensern aus allen Organisationen zu einer Abwehrschlacht, der ihr Platz in den Herzen der Araber für immer gesichert ist. Dies ist das palästinensische Massada - so hat es ein israelischer Offizier genannt und damit angespielt auf den legendären Ort der Überreste des großen jüdischen Aufstands gegen Rom im Jahre 71 n. Chr.

Wenn die internationalen Medien sich nicht mehr draußen halten lassen und die Schreckensbilder veröffentlicht sind, werden sich wohl zwei Sichten herausschälen: Dschenin als die Geschichte eines Massakers, ein zweites Sabra und Schatila - und Dschenin, das palästinensische Stalingrad, eine Geschichte unsterblichen Heldentums. Die zweite wird mit Sicherheit überwiegen.

Nationen sind auf Mythen gebaut. Ich wurde großgezogen mit den Mythen von Massada und Tel-Chai, sie formten das Bewußtsein der neuen hebräischen Nation. (In Tel-Chai wurde 1920 eine Gruppe jüdischer Verteidiger, geführt von dem einarmigen Helden Josef Trumpeldor, bei einem Zusammenstoß mit antifranzösischen syrischen Kämpfern getötet.) Die Mythen von Dschenin und Arafats belagertem Sitz in Ramallah werden das Bewußtsein der neuen palästinensischen Nation prägen.

Ein primitiver Militärroboter, der alles unter dem Aspekt von Feuerkraft und Body-counts betrachtet, wird das nicht verstehen können. Aber Napoleon, ein militärisches Genie, sagte, daß im Krieg Dinge der Moral drei Viertel ausmachen, das jeweilige Kräfteverhältnis nur das letzte Viertel.

Wie stellt sich Scharons Krieg aus dieser Sicht dar? Was die Kräfte angeht, ist die Sache klar. Ein paar Dutzend tote Israelis, viele hundert tote Palästinenser. Keine Zerstörungen in Israel, schrecklich zerstörte palästinensische Städte.

Das Ziel war, so wurde behauptet, »die terroristische Infrastruktur zu zerschlagen«. Der Begriff selbst schon ist unsinnig: die »terroristische Infrastruktur« lebt in den Seelen von Millionen Palästinensern und zig Millionen Arabern, deren Herzen vor Wut rasen. Je mehr Kämpfer und Selbstmordattentäter getötet werden, umso mehr Kämpfer und Selbstmordattentäter werden an ihre Stelle treten. Wir haben die »Sprengstoff-Fabriken« zu sehen bekommen - ein paar Säcke von Material, das man in israelischen Läden kaufen kann. Die israelische Armee ist stolz, einige Handvoll entdeckt zu haben. Es wird bald Hunderte von neuen geben.

Wenn Dutzende Verwundeter in den Straßen liegen und langsam verbluten, weil die Armee auf jede Ambulanz schießt, die sich bewegt, erzeugt das schrecklichen Haß. Wenn die Armee Hunderte getöteter Männer, Frauen und Kinder heimlich verscharrt, erzeugt das schrecklichen Haß. Wenn Panzer Autos niederwalzen, Häuser zerstören, Leitungsmasten umstürzen, Wasserrohre aufreißen und so Tausende von Menschen obdachlos machen und Kinder zwingen, ihren Durst aus Straßenpfützen zu stillen - führt das zu schrecklichem Haß.

Palästinensische Kinder, die all dies mit eigenen Augen sehen, werden die Selbstmordattentäter von morgen sein. So schaffen Scharon und Mofaz die terroristische Infrastruktur.

Die Fundamente der palästinensischen Nation und des palästinensischen Staates haben sie bereits gelegt. Die Menschen haben ihre Kämpfer in Dschenin gesehen und halten sie für weit größere Helden als die israelischen Soldaten, die geschützt in ihren schweren Panzern hocken. Sie haben ihren Führer Arafat in der historischen Fernsehsequenz gesehen, das Gesicht erhellt von einer einzigen Kerze in seinem dunklen, belagerten Büro - und vergleichen ihn mit den wohlgenährten israelischen Ministern, die in ihren Büros weit hinter der Kampffront sitzen, umgeben von ganzen Horden von Bodyguards. So wird Nationalstolz erzeugt.

Dieses Abenteuer wird, wie alle früheren Abenteuer Scharons, Israel nichts Gutes bringen. Die Anlage der Operation war stupid, ihre Umsetzung grausam, ihre Ergebnisse werden katastrophal sein. Sie wird weder Frieden noch Sicherheit bringen, kein einziges Problem lösen, aber sie wird Israel isolieren und die Juden in aller Welt gefährden.

Am Ende wird nur eines in Erinnerung bleiben: Unsere gigantische Militärmaschinerie hat das kleine palästinensische Volk überfallen, und das kleine palästinensische Volk und sein Führer haben standgehalten. In den Augen der Palästinenser, und nicht nur in ihren, wird daraus ein ungeheurer Sieg, der Sieg eines modernen David gegen Goliath.

(Übersetzt von Hermann Kopp)

 
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