[home]
 

Langfassung

Freundschaft und Kritik

Warum die "besonderen Beziehungen" zwischen Deutschland und Israel überdacht werden müssen / Das "Manifest der 25"

erschien gedruckt in einer gekürzten in der Frankfurter Rundschau v. 15.11.2006
Quelle: http://www.fr-online.de/doku/?em_cnt=1009679 

In einem Interview in der ZEIT am 31. August 2006 sagte die israelische Außenministerin Zipi Liwni anlässlich ihres Berlin-Besuchs: "Aber die Beziehung (zwischen Deutschland und Israel) war immer eine besondere und freundschaftliche." Diese Besonderheit lässt sich auf der deutschen Seite nach unserer Wahrnehmung im Wesentlichen wie folgt charakterisieren: Deutschland hat sich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der prekären Lage Israels uneingeschränkt für Existenz und Wohlergehen dieses Landes und seiner Bevölkerung einzusetzen, unter anderem durch Lieferung von staatlich geförderter hochwertiger Waffentechnologie auch dann, wenn Israel gegen internationales Recht und die Menschenrechte verstößt und sich im Kriegszustand befindet; Kritik an israelischen Handlungsweisen sollte, wenn überhaupt, nur äußerst verhalten geäußert werden und besser unterbleiben, solange die Existenz dieses Landes nicht definitiv gesichert ist.

Die Autoren

Diese deutschen Politologen schrieben das Manifest: Dr. Dieter Arendt, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Gießen; Dr. Detlev Bald, Friedensforscher und Historiker in München; Dr. Johannes Becker, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; Dr. Jörg Becker, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; Dr. Tilman Evers, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin; Dr. Marianne Gronemeyer, Professorin für Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaft an der FH Wiesbaden; Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie an der Universität Gießen; Dr. Karl Holl, Professor für Geschichte an der Universität Bremen; Prof. Dr. Karlheinz Koppe, ehem. Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) in Bonn; Dr. Gert Krell, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt; Dr. Georg Meggle, Professor für Philosophie an der Universität Leipzig; Dr. Werner Ruf, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel; Dr. Hajo Schmidt, Professor für Philosophie an der Fernuniversität Hagen; Prof. Dr. Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg; Dr. Reiner Steinweg, Literaturwissenschaftler, Friedensforscher und Konfliktberater, Linz/Donau; Prof. Dr. Helmut Thielen, Coordinación General del Instituto Alexander von Humboldt-ICIBOLA in Porto Alegre/Brasilien; Dr. Wolfram Wette, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg.

Der Text wird der Grundintention nach unterstützt von Dr. Hanne-Margret Birckenbach, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Gießen; Dr. Ernst-Otto Czempiel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt; Dr. Egbert Jahn, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim; Dr. Gert Krell, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt; Irene Krell, Lehrerin in Frankfurt; Dr. Gerald Mader, Präsident des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung, Stadtschlaining/ Burgenland; Hannah Reich, Berghof Forschungszentrum für Konstruktive Konfliktbearbeitung in Berlin; Erich Schmidt-Eenboom, Leiter des Forschungsinstituts für Friedenspolitik in Weilheim/Oberbayern; Dr. Christian Wellmann, Stv. Direktor des Schleswig-Holsteinischen Instituts für Friedenswissenschaften in Kiel.

 

Drei Fragen werden im folgenden diskutiert: 1. Ist es angemessen und sinnvoll, die "freundschaftliche Beziehung" - und das soll sie nach Auffassung der Autoren bleiben - weiterhin als "besondere" im angedeuteten Sinne zu pflegen? 2. Steht Deutschland aufgrund des Holocaust wirklich nur bei Israel in der Pflicht im Nahen Osten? 3. Und was bedeutet es für den binnendeutschen Diskurs, für die Beziehungen zwischen nicht-jüdischen, jüdischen und muslimischen Deutschen, wenn diese beiden Fragen ernsthaft gestellt werden?

Zu welchen Antworten wir und die Leser mit oder gegen uns auch immer kommen, eines steht nicht in Frage: Dass angesichts der weltweit historischen Einzigartigkeit des Holocaust das Verhältnis der nicht-jüdischen Deutschen zu Juden, zu allen, die sich als solche verstehen, ein einmaliges ist, das von besonderer Zurückhaltung und besonderer Sensibilität geprägt sein muss, und dass uns nichts von der Verpflichtung entbinden kann, dem religiösen Antijudaismus und dem ethnisch oder/und rassistisch motivierten Antisemitismus entschieden entgegenzutreten, wo immer er auftritt.

Freundschaft oder "besondere" Freundschaft?

Auf der zwischenmenschlichen Ebene gilt zweifellos: Eine tragfähige Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Freunde oder Freundinnen einander aus Sorge um das Wohlergehen des anderen auch vor Fehlern, Fehlentscheidungen und Fehlhaltungen warnen. Dies umso mehr, wenn für beide Seiten viel auf dem Spiel steht. Solange die Kritik nicht im Duktus der moralischen Verurteilung und in der Sprache der Abwertung stattfindet, sondern anteilnehmend und mit Verständnis für die Umstände, die ihn oder sie zu bewegen, mit Respekt vor der Freiheit des anderen und aus dem Bedürfnis heraus, zu seinem oder ihrem (auch geistigen und moralischen) Wohlergehen beizutragen, wird die Freundschaft sich dadurch weiter vertiefen.

Gilt das auch dann, wenn einer der beiden dem Anderen gegenüber eine tiefe und zurückliegende Schuld abzutragen hat? Wir meinen, je reifer die Freundschaft wird, desto mehr wird dies auch in einer solchen Beziehung der Fall sein. Allerdings muss die dazu erforderliche Haltung in jeder neuen Situation neu gesucht und gefunden werden.

Ist diese Feststellung auch auf große Kollektive bzw. auf ein politisches Verhältnis wie das zwischen Israel und Deutschland übertragbar? Gelten dort nicht andere Gesetze und Maßstäbe? Ja und nein. Ja, weil die Beziehung aufgrund der großen Zahl der Beteiligten und ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen wesentlich vielschichtiger ist. Diejenigen, die diese kollektive Beziehung als handelnde Politiker auch persönlich verkörpern, müssen auf die unterschiedlichen Gefühle und Bedürfnisse derjenigen Rücksicht nehmen, die sie vertreten. Sie können nur bedingt so handeln, wie sie persönlich gern handeln würden. Dies ist bei allem und immer in Rechnung zu stellen. Nein, weil auch und gerade große Kollektive auf kritische Wahrnehmungen und Rückmeldungen von außen angewiesen sind, damit Fehlentscheidungen korrigiert und die Entwicklung von gefährlichen Blindstellen und Fehlhaltungen verhindert werden können.

Nehmen wir an, die israelische Regierung hätte, wie es unter Freunden nahe liegen würde, nach der Tötung der acht israelischen Soldaten und der Entführung von zwei weiteren durch die Hizbullah am 12. Juli die deutsche Regierung über ihre geplanten Reaktionen informiert (Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Libanon inkl. der Wasser-, Elektrizitäts- und Ölversorgung sowie des Tourismus durch einen Ölteppich vor der Küste, Vertreibung der Bevölkerung aus dem Südlibanon, bewusste Inkaufnahme hoher ziviler Opfer, um wenigstens eine militärische Schwächung - wenn schon nicht eine Entwaffnung - der Hizbullah zu erreichen, Verweigerung humanitärer Korridore zur Versorgung derjenigen, die nicht fliehen konnten, vollständige Zerstörung der Schiitenviertel in den libanesischen Städten, wochenlange Blockade der Küste und der Flughäfen und Einsatz von Streubomben). Wie hätte die deutsche Regierung als Freund Israels darauf reagieren können? Vielleicht wäre es der deutschen Regierung eher als der israelischen möglich gewesen, die katastrophalen weltweiten Folgen einer solchen "massiven Vergeltung" nach dem Prinzip der Kollektivhaftung einzuschätzen? Vielleicht hätte die deutsche Regierung zu einem abgestuften Vorgehen geraten oder zu einer Anrufung des Sicherheitsrates oder zu etwas Anderem. Es geht hier nicht darum, die Möglichkeiten einer solchen freundschaftlichen Beratung durchzuspielen und abzuwägen. Für unsere Zwecke genügt es, sich überhaupt vorzustellen, was "Freundschaft" in einem solchen Falle auch hätte bedeuten können. Eine absurde Vorstellung? Absurd gewiss, wenn die Beziehung weiterhin als "besondere" im eingangs bezeichneten Sinne verstanden wird. Befreit man sich von dieser Vorstellung, liegt es auf der Hand, dass es sowohl für Israel als auch für Deutschland von Vorteil wäre, eine belastungsfähige Freundschaft zu entwickeln, in der auch Kritik in unterstützender, nicht abwertender Absicht ihren Platz hat.
Natürlich würde eine solche Veränderung im deutsch-israelischen Verhältnis auch das Verhältnis Israels zur EU, zu den USA usw. tangieren. Dies soll hier ebenfalls nicht durchgespielt werden. Es genügt, festzuhalten, dass die Veränderung in keinem dieser Fälle zum Schaden der Beteiligten sein würde.

Die deutsche Verantwortung gegenüber Palästina

Es gibt eine viel zu selten bedachte Seite der Holocaust-Folgen. Bis zum Jahre 1933 - 37 Jahre nach Erscheinen der den Zionismus begründenden Schrift "Der Judenstaat" von Theodor Herzl und 16 Jahre nach der Balfour-Declaration, in der England als Mandatsmacht den Zionisten eine "Heimstätte" in Palästina versprach - waren max. 160.000 Juden in Palästina eingewandert. Und nicht wenige von ihnen hatten diesen Schritt in der Vorstellung getan, es sei möglich, das "Heilige Land" gemeinsam mit den ortsansässigen Arabern zu kultivieren und zu entwickeln. Niemand sollte vertrieben werden, und so argumentierte Martin Buber noch 1950. Erst durch die früh erkennbare radikale Bedrohung der Juden im nationalsozialistischen Einflussbereich kam es zu einer die Balance mit den Arabern gefährdenden Masseneinwanderung. Nicht zuletzt unter dem Schock des Holocaust fand der gegen die arabischen Staaten gefasste Beschluss der Vereinten Nationen, die Gründung eines Staates Israel zu akzeptieren, internationale Zustimmung, trotz zunächst starker Bedenken der Briten und über lange Zeit auch des Außenministeriums der USA.

Mit anderen Worten: Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die (muslimischen wie christlichen und drusischen) Palästinenser gebracht hat. Das ist nicht dasselbe, als hätte das Dritte Reich einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Aber zahllose Tote waren auch hier die Folge, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung oder das Hausen in Notquartieren bis auf den heutigen Tag. Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen, um seine Existenz zu sichern. Und ohne den Holocaust erhielte Israel dafür nicht die materielle und politische Rückendeckung der USA, wie sie sich v.a. seit den neunziger Jahren entwickelt hat. (Die amerikanische Finanzhilfe an Israel beläuft sich auf 3 Mrd. US-Dollar jährlich und entspricht damit 20 Prozent der gesamten Auslandsfinanzhilfe der USA.)

Der seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten andauernde, immer wieder blutige Nahostkonflikt hat unbestreitbar eine deutsche und in Abstufungen eine europäische Genese;europäisch insofern, als der deutsche Gedanke einer "Endlösung der Judenfrage" aus dem europäischen Antisemitismus und Nationalismus hervorgegangen ist. Und die palästinensische Bevölkerung hat an der Auslagerung eines Teils der europäischen Probleme in den Nahen Osten nicht den geringsten Anteil.

Es ist also nicht nur Israel, das Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit, Zuwendung und freundschaftliche Kritik Deutschlands (und Europas) hat. Als Deutsche, Österreicher und Europäer haben wir nicht nur Mitverantwortung für die Existenz Israels, die, nachdem die Geschichte nun einmal diesen Gang genommen hat, ohne Abstriche für alle Zukunft zu sichern ist, sondern auch eine Mitverantwortung für die Lebensbedingungen und eine selbstbestimmte Zukunft des palästinensischen Volkes.

Wieder kann und muss hier nicht im Einzelnen durchgespielt werden, was es heißen würde, diese Verantwortung ernster zu nehmen als bisher. Mit Geldtransfer allein ist es jedenfalls nicht getan. Es ist klar, dass das Ziel ein ökonomisch lebensfähiges Palästina mit ungehinderter Bewegungsfreiheit zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland sein muss, kein Staat zweiter Klasse, kein Homeland, kein zerstückeltes Bantustan. Und dass nur eine verhandelte Lösung, keine einseitig dekretierte, Aussicht auf Bestand hat. Klar ist auch, dass jede Anstrengung unternommen werden muss, um den Anreiz für Palästinenser zu verringern, sich an mörderischen Attentaten und Raketenangriffen auf israelische Zivilisten zu beteiligen bzw. den Anreiz zu erhöhen, sich an konstruktiver Aufbauarbeit zu beteiligen. Europäische Muslime könnten mit entsprechender Unterstützung dazu beitragen, dass auch in Palästina diejenigen islamischen Grundwerte mehr Aufmerksamkeit finden, die den Selbsmordattentaten, die ja nicht von Muslimen erfunden wurden, entgegenstehen, und dass islamische Vorbilder gewaltfreien Widerstands gegen staatliches Unrecht bekannt und anerkannt werden.

Israels Sicherheit kann auf Dauer nur dadurch gewährleistet werden, dass es ringsherum Nachbarn hat, die mit ihren individuellen und staatlichen Lebensbedingungen und Entfaltungschancen so zufrieden sind, dass sie eine gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für die Probleme, die den ganzen Nahen Osten betreffen - wie z.B. die Wassernutzung und -verteilung - überhaupt denken können. Und die Sicherheit und Unversehrtheit Palästinas und der Palästinenser ist nur zu gewährleisten, wenn Israelis nicht mehr fürchten, ins Meer getrieben zu werden. Vielleicht muss es - ohne Annektionen - angesichts des ganzen vergangenen Schreckens für einige Jahrzehnte tatsächlich eine weitgehende Trennung geben, bis hin zu Korridoren durch Tunnel zwischen den Landesteilen Palästinas, so lange, bis sich die Lage beruhigt hat. Freiwillige Begegnungen insbesondere der jungen Leute auf "neutralem Boden" könnten gleichzeitig helfen, die beiderseitigen stereotypen Wahrnehmungen aufzulösen.

Eine dem Holocaust und seinen Folgewirkungen für beide Seiten gerecht werdende deutsche Haltung bedeutet, Verantwortung für eine Transformation des israelisch-palästinensischen Konflikts zu übernehmen. Sie ist nur als gleichgewichtige möglich. Die erste Voraussetzung dafür besteht darin, das Leiden wie das Unrecht (die Gewaltsamkeit der Konfliktaustragung) auf beiden Seiten wahrzunehmen und die Bedürfnisse nach Sicherheit, Menschenwürde und Vertragstreue auf beiden Seiten anzuerkennen. Nicht nur die militaristischen Gruppen der Palästinenser und die Hizbullah haben mit ihren Raketenangriffen und den fortgesetzten Selbstmordattentaten den Geist von Oslo zerstört; die völkerrechtswidrige Fortsetzung und der massive Ausbau der israelischen Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten seit 1993, dem Zeitpunkt des Oslo-Abkommens, die willkürliche Zerstörung von Häusern, Gärten, Olivenhainen, Infrastruktur, die täglichen Demütigungen der Palästinenser und schließlich die de facto-Annektion von etwa 10 Prozent des Westjordanlandes mittels einer "Zaun" genannten, in Teilen acht Meter hohen Mauer hatten die gleiche fatale Wirkung. Die Frage nach Ursache und Wirkung ist hier wie die nach Henne und Ei. Sie ist unproduktiv.

Eine Konfliktlösung ist nur auf sehr lange Sicht im Rahmen einer gemeinsamen regionalen, auch Ägypten, Jordanien, Libanon, und Syrien einschließenden wirtschaftlichen Nahostkooperation möglich. Konflikttransformation kann dagegen sofort beginnen. Sie verlangt eine erneute Anstrengung, einen lebbaren modus vivendi zu finden, der Konsequenzen aus den Fehlern von Oslo zieht. Deutsche Politik könnte hier, wenn sie sich als freundschaftlich nach beiden Seiten versteht, einen Beitrag leisten.

Was bedeutet das alles für den binnendeutschen Diskurs?

Die angedeutete, aus unserer Sicht wünschenswerte Veränderung der deutschen Haltung setzt Veränderungen auch im innerdeutschen Verhältnis voraus. Trotz ernsthafter Auseinandersetzung mit Ursachen, Verlauf und Folgewirkungen des Holocaust in Literatur, Kunst und Wissenschaft sowie in unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen sind Vorurteile, Ressentiments und Misstrauen gegenüber Juden in Deutschland nach wie vor weit verbreitet. Antisemitismus hält sich nicht nur hartnäckig in trüben neo-nazistischen Randbereichen, sondern findet sich mitunter, mehr oder weniger verdeckt, durchaus auch im Mainstream der deutschen Bevölkerung und der großen politischen Parteien.

Gleichzeitig haben tragende Kräfte der deutschen Politik und Gesellschaft die Trauer über das Ungeheuerliche in mehr oder weniger hohle Rituale verflacht und so Einstellungswandel eher behindert als gefördert. Das Ergebnis ist ein problematischer Philosemitismus. Problematisch deshalb, weil die bloße Umkehrung eines starren, gegen die Realität abgeschotteten Feindbildes letztlich nur dasselbe mit umgekehrten Vorzeichen ergibt und ebenfalls gegen die Realität und jedes differenzierte Urteil immunisiert. Theodor W. Adorno hielt in seiner "Dialektik der Aufklärung" fest: "Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität (vorgestanztes Denken) überhaupt." Zusammen mit dem eingangs erwähnten unausgesprochenen Verbot offener Kritik an israelischen Entscheidungen stärkt der Philosemitismus in Deutschland den Antisemitismus eher als dass er ihn schwächt.

Ganz erhebliche Anstrengungen müssen unternommen werden, um muslimischen, deutschen und jüdischen Jugendlichen ein positives Verhältnis zueinander zu ermöglichen. Auf die Dauer wird eine nach beiden Seiten offene und freundschaftliche deutsche Politik im Nahen Osten nur dann möglich sein, wenn sie in Deutschland selbst die Unterstützung sowohl der Juden als auch der Muslime findet und der Antisemitismus deutlich zurückgedrängt wird. So lange eine der beiden Gruppen sich unterbewertet oder ausgegrenzt fühlt, kann aus friedlicher Koexistenz oder gar gleichberechtigtem Dialog nichts werden.

Jede neue Attacke auf israelische Zivilisten, jede neue Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgebots durch Armee und Regierung Israels verstärken die Lagermentalität pro und contra Israel in Deutschland, die schon jetzt beängstigende Ausmaße angenommen hat. In dieser Situation ist eine breite öffentliche und offene Debatte über die oben aufgeworfenen Fragen notwendig. Letztlich gilt in Demokratien (und nicht nur dort), dass "die" Politiker nur diejenige Politik mit Erfolg betreiben und durchsetzen können, die von den Bürgerinnen und Bürgern in ihrer großen Mehrheit gewollt wird. Es genügt daher nicht mehr, im stillen Kämmerlein den Kopf zu schütteln über Israels Vorgehen oder die Faust ob der Attacken der Hamas und der Hizbullah zu ballen. Wir alle müssen uns im gleichen Maße von den gewalttätigen Aspekten der israelischen Politik abgrenzen, wie wir uns vom militärischen Vorgehen eines Teils der Palästinenser und der libanesischen Hizbullah distanzieren. Jede Stimme aus Israel und Palästina, die genau dies von uns verlangt - und die gibt es zum Glück - ist eine wertvolle Hilfe auf diesem Weg und sollte Gehör in unseren Medien finden.

Vielleicht hilft es sich vorzustellen, wie in der gegenwärtigen Situation wohl die vielen Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler und Musiker jüdischer Herkunft von Adorno über Einstein, Freud und Marx bis zu Zweig reagiert hätten, auf die wir so stolz sind und ohne die die deutsche Kultur und der deutsche Beitrag zur Wissenschaft um so vieles ärmer wären. Wir sind überzeugt, dass sie den folgenden Satz unterschreiben würden: Nur Gleichheit und Respekt vor Recht und Völkerrecht können ein friedliches Zusammenleben gewährleisten und sind die einzigen Garanten für eine dauerhafte Existenz des Staates Israel und des zukünftigen Staates Palästina in Sicherheit - und für die Sicherheit von Juden und Jüdinnen bei uns und in aller Welt.

Die in der UN-Charta und in der UN-Menschenrechtserklärung formulierten Menschenrechte entstanden vor dem Hintergrund der Nazi-Barbarei, insbesondere des industrialisierten rassistischen Massenmordes an Juden, Sinti, Roma und anderen Minderheiten. Doch beide Dokumente kennen nur die Gleichheit der Menschen ohne jede Ausnahme. Das muss auch für die Konfliktparteien im Nahen Osten gelten.

Altruismus oder Eigeninteresse?

Was oben über die Notwendigkeit einer gleichgewichtigen freundschaftlichen deutschen Nahost-Politik gesagt wurde, mag in manchen Ohren zunächst idealistisch klingen, zu sehr von Ethos und zu wenig von Interesse geprägt. Es ist daher geboten, das damit verbundene Eigeninteresse offen zu legen, und dies tut unseres Erachtens den vorgebrachten Argumenten keinen Abbruch.

Der 11. September 2001 hat endgültig klar gemacht, dass wir uns auf dem Weg in einen neuen hochexplosiven Ost-West-Konflikt befinden, der weitaus schwerer unter Kontrolle zu halten sein wird als der alte mit seinen streng zentralisierten und verlässlichen Kommandostrukturen. Obwohl der transnationale Terrorismus viele Quellen hat, ist unverkennbar, dass eine Hauptquelle der zunehmenden terroristischen Energie der ungelöste Nahostkonflikt ist. (Dass manchen autoritären oder diktatorischen arabischen Regimen das Offenhalten dieser Quelle sehr gelegen kommt, weil es hilft, von den eigenen internen politischen Problemen abzulenken, schmälert das Gewicht dieser Einsicht nicht.)

Wenn der Gegensatz zwischen islamischer und westlicher Welt im Nahen Osten weiter angeheizt wird, und das war im Libanonkrieg in einem Maße der Fall, das selbst die Erwartungen der Experten übertroffen hat, ist nicht nur der Nahe Osten, sondern mehr oder weniger die ganze Welt betroffen. Die Anschläge von Madrid und London und die nur durch Zufall verhinderten Anschläge auf Züge in Deutschland haben die extreme Verwundbarkeit Europas gezeigt. Jede weitere blind antiwestliche Solidarisierung in der islamischen Welt gefährdet unmittelbar das heute für so viele Menschen der Erde attraktive Modell Europa und bringt erneutes Leid über zahllose Zivilisten aller möglichen Orientierungen und Nationalitäten. Es darf daher nichts unterlassen werden, was geeignet ist, diesen neuen Ost-West-Konflikt abzubauen - im Äußeren wie im Inneren. Dies und das Eintreten für die Menschenrechte, wo und durch wen immer sie verletzt werden, sind wir den Opfern des Nationalsozialismus schuldig.