Sumaya Farhat-Naser:
»Israel will, daß wir flehen, kapitulieren zu dürfen«

junge-Welt-Gespräch über die palästinensische Intifada, den deutschen Außenminister Joseph Fischer und die Politik der israelischen Führung sowie die Gefahren für die israelische Gesellschaft

Interview: Rüdiger Göbel, junge Welt vom 08.12.2001
 
Sumaya Farhat-Naser wurde 1948 in Bir-Zeit bei Jerusalem geboren. Nach dem Studium der Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg promovierte sie 1982 in Angewandter Botanik und lehrte von 1982 bis 1997 Botanik und Ökologie an der Bir-Zeit-Universität, wo sie ab Februar 2002 wieder arbeiten wird.

Neben ihrem naturwissenschaftlichen Interesse engagiert sich Sumaya Farhat-Naser vor allem für die palästinensische Gesellschaft insbesondere für Frauen und Jugendliche. Sie ist Mitgründerin und Mitglied zahlreicher Frauenorganisationen, der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und initiierte Bildungsprogramme für palästinensische Frauen und Jugendliche.

Am vergangenen Wochenende war die Palästinenserin Gast beim bundesweiten Friedensratschlag in Kassel. Im Buch »Thymian und Steine« (erschienen im Lenos Verlag, Basel 2000) erzählt Sumaya Farhat-Naser ihre Lebensgeschichte, die im Jahr der israelischen Staatsgründung begann.

F: Die zweite Intifada dauert seit nunmehr über 15 Monaten an. Mehr als 800 Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen, ganz überwiegend Palästinenser, Tausende wurden verletzt. Im Vergleich zum letzten Aufstand der Palästinenser bis 1993 scheint die gegenwärtige Al-Aksa-Intifada ein reiner Akt der Verzweiflung zu sein, ohne organisatorische Struktur sowie ziel- und perspektivlos. Mit welchen Problemen ist der palästinensische Widerstand konfrontiert?

Während unserer ersten Intifada konnte kein Grundstein in einer Siedlung gelegt werden. Jegliche Besatzungsaktivität war gestoppt worden. Die damalige Infrastruktur machte dies möglich. In der ersten Intifada haben wir gewaltlos gekämpft, ohne Waffen. Der Widerstand wurde von der Bevölkerung organisiert. Weil wir heute mit der Palästinensischen Autonomiebehörde eine staatliche Struktur haben, trägt die Regierung Verantwortung. Viele Menschen an der Basis fühlen sich nicht befähigt, mitzudiskutieren und zu planen. Hinzu kommt, daß Palästinenser heute im Rahmen des Aufstandes zum Mittel des bewaffneten Kampfes greifen. Auch wenn die Maßnahmen nur minimal sind im Vergleich zu dem, was die Israelis machen, bekommt das Ganze eine andere Perspektive und auch eine ganz andere Härte.

Das erste Mal seit 34 Jahren Besatzung greifen israelische Kampfflugzeuge palästinensische Zivilisten an, Panzer stehen um alle Dörfer und Städte, politische Führer der Palästinenser werden von Israel hingerichtet, und die schweigende Weltöffentlichkeit scheint das alles zu billigen. Kleine Gruppen bewaffneter Palästinenser, die auf israelische Siedlungen und Siedler feuern, werden mit einer militärischen Macht gleichgesetzt. Nur so kann man einen Waffenstillstand einfordern. So wird der Eindruck erweckt, als handele es sich um einen normalen Krieg mit zwei gleichen Gegnern.

In der ersten Intifada gab es keine Selbstmordattentate seitens individueller oder radikaler Gruppierungen gegen Israel. Dazu ist es erst gekommen, nachdem der Friedensprozeß gescheitert ist und für viele Leute klar wurde, daß der vermeintliche Weg des Friedens keinen Sinn mehr hat. Das ist das Schlimmste, was uns widerfahren ist. Ich lehne jegliche Art von Gewaltanwendung ab, und erst recht lehne ich Terrorakte ab, egal wer sie gegen wen ausführt. Doch was Israel betreibt, ist höchste Stufe des Terrors: Es ist Staatsterror.

Was machen die Palästinenser heute? Die Mehrheit der Menschen sitzt zu Hause und kann nicht zur Arbeit gehen. Sie werden bombardiert, können ihre Ernte nicht einbringen und ihre Felder nicht bebauen. Israel führt »Rasieraktionen« durch: Uralte Olivenbäume werden ausgerissen, ganze Plantagen plattgewalzt, Häuser zerstört. Die Menschen hoffen, daß etwas anderes kommt. Es gibt nur ganz wenige, die zu Gewalt greifen und meinen, nur dieses Mittel helfe. Wir alle aber sind Gefangene dieser Situation.

In der ersten Intifada wurden klare gewaltlose Aktionen geplant, die sehr effektiv waren. Zum Beispiel der Boykott von Steuern und israelischer Produkte. Heute können wir das nicht mehr machen. Inzwischen wurden separate Straßensysteme etabliert. So gibt es Straßen nur für Israelis und andere nur für Palästinenser. Sie werden vom Militär kontrolliert und blockiert. Wir können uns nicht bewegen, leben eingezäunt in unseren kleinen Dörfern und Städten. Während wir Palästinenser weder produzieren noch unsere Ernte einbringen können, kommen israelische Geschäftsleute. Sie dürfen ihre Waren bis an unsere Tür bringen verkaufen uns ihre Produkte zum dreifachem Preis. Wir sind darauf angewiesen, dieses dreckige Geschäft mitzumachen, um zu überleben. Deshalb fühlen wir uns auch wirtschaftlich ausgebeutet und total ausgeliefert. Das ist es, was wir alltäglich erleben.

Das Problem ist, daß die Welt und erst recht die Friedensbewegung die Dinge nicht beim Namen nennen: Wir werden unterdrückt. Wir leben unter Besatzung, Besatzung, Besatzung. Der Friedensprozeß ist gescheitert, weil die Israelis die Besatzung nicht aufgeben wollen. Sie wollen die Besatzung in Frieden umtaufen und alles beim alten belassen.

Israel kann weitermachen mit dieser Politik, immer mehr Gebiete okkupieren, mehr Menschen vertreiben, ihnen das Leben so schwer machen, daß sie das Land verlassen. Doch Frieden wird es damit bestimmt nicht bekommen. Für Israel werden die Probleme damit nur noch komplexer, auch innerhalb des eigenen Landes. Auf Dauer kann man dieses Vorgehen nicht vereinbaren mit jüdischer Ethik und Moral, mit Demokratie und Menschenrechten. Die Politik der israelischen Führung zerstört die eigene Gesellschaft. Sie wird dahin führen, daß anti-israelische Bewegungen in großem Maße im gesamten Nahen Osten und auf der ganzen Welt entstehen. Die israelische Führung zerstört die Existenz des Staates Israel und bringt anti-judaistische Tendenzen hervor. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Deshalb glaube ich auch, daß jeder Stellung nehmen und sich einmischen muß. Es geht so nicht weiter.

Ausgangspunkt einer Lösung muß die Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen sein. Wir Palästinenser haben gleiche Rechte wie Israelis. Wenn wir Palästinenser sagen, wir wollen nur die besetzten Gebiete, ist dies eine großer Opfergabe unsererseits. Israel wird 78 Prozent des historischen Landes Palästina für sich behalten, wir fordern nur 22 Prozent ein.

F: Nicht alle Palästinenser wollen sich mit diesen 22 Prozent zufriedengeben. Hamas etwa kämpft für »ganz Palästina« ...

... aber es gibt genauso viele Israelis, die so argumentieren. Selbst Scharon sagt das. Er will nicht nur ganz Palästina, sondern auch Ostjordanien für sein Großisrael.

Solche Menschen gibt es nun einmal und wird es immer geben. Aber die Mehrheit begnügt sich und ist froh, wenn sie überhaupt eine Heimat hat. Unsere Heimat wird klein sein. Wir wissen, es gibt viele Palästinenser im Exil. Nicht alle werden zurückkommen, und die Integration der Rückkehrer wird über 10, 15 und 20 Jahre dauern. Anders könnten wir sie gar nicht aufnehmen. Doch es wird gehen. Israel hat doch auch vor, Millionen Juden aufzunehmen. Kein Mensch fragt, ob für sie genug Platz ist oder nicht.

F: Sie glauben, eine gerechte Lösung würde automatisch Sicherheit für die Israelis bedeuten, auch wenn Hamas mit Terroranschlägen in Israel um ganz Palästina kämpft?

Noch einmal, Scharon will auch Ostjordanien. Nicht nur Scharon, die radikalen Gruppen in Israel sind eindeutig für die totale Vertreibung der Palästinenser. Wir könnten also sagen, solange es welche bei euch mit diesen extremistischen Positionen gibt, werden wir nicht mit euch reden. Wir wären dennoch die Verlierer, weil wir nicht stark genug sind. Doch Israel muß verstehen, nicht ewig der Stärkste zu sein. Die Israelis müssen damit rechnen, daß sie einmal die Schwachen sind. Und ich möchte ihnen wirklich gönnen, daß sie sicher sind, wenn sie viel schwächer sind als wir. Gerade deshalb muß die Politik in der jetzigen Situation greifen. Die Mehrheit der Palästinenser wird für Sicherheit und Frieden sorgen, wenn sie ihren Staat haben.

F: Heißt das, die größte Gefahr für den Fortbestand oder die Existenz Israels geht gegenwärtig von Ariel Scharon aus, der von der Mehrheit der israelischen Bevölkerung gewählt wurde?

Scharon ist nicht gewählt worden, weil die Mehrheit ihn haben wollte. Er ist gewählt worden, weil sein Vorgänger Barak viele Menschen enttäuscht hat – sowohl in seiner Partei und in der israelischen Friedensbewegung als auch die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Barak hat die Politik seines Vorgängers Netanjahu fortgesetzt. Dies hat die Arbeitspartei geschwächt. Bei den Wahlen haben sich viele Unentschlossene gesagt, auf keinen Fall noch einmal Barak. Sie sahen keine Alternative, als für Scharon zu stimmen.

Dennoch haben Sie recht, die Mehrheit der Israelis steht heute hinter Scharon. Er arbeitet mit dem Krieg und instrumentalisiert die Angst der Menschen. Solange es Krieg gibt, kann er an der Macht bleiben. Er predigt jeden Tag, wie wichtig die harte Faust ist, um Sicherheit zu bringen. Daß gerade während seiner Regierungszeit so viele Menschen in Israel getötet werden, wird leider nicht gesehen. Vielmehr entsteht ein Kreislauf von Gewalt und Angst. Und in einer solchen Situation kann ein Mann wie Scharon nicht einfach zur Seite geschoben werden. Wenn heute Wahlen stattfänden, würde die Mehrheit wieder für Scharon stimmen. Er kann erst abgelöst werden, wenn die Arbeitspartei zur Besinnung kommt und sich die Friedenskräfte in der Meretz-Partei entschließen, die gegenwärtige Koalition zu beenden. Solange Peres die Politik von Scharon verteidigt und sich auf die Position stellt, die UNO-Resolutionen sind nur etwas Geschriebenes auf dem Papier und brauchen nicht respektiert zu werden, wird es keine Änderung geben.

F: Was wäre ein notwendiger Zwischenschritt für eine Deeskalierung der Situation?

Wir brauchen internationale Beobachter. Israel lehnt diese aber partout ab. Das bedeutet doch, man hat vor, weiter schreckliche Dinge zu tun.

Wir können aus dieser schrecklichen Situation aufgrund der asymmetrischen Kräfteverhältnisse und des endlosen Kreislaufs der Gewalt nicht ohne internationale Präsenz ausbrechen. Zunächst müßten Friedenstruppen die Fronten trennen. Viel wichtiger ist aber der Aufbau politischer Gremien, die dafür sorgen, daß die unterschriebenen Verträge verwirklicht werden. Wir brauchen einen Aktionsplan. Dieser darf nicht nur auf dem Papier stehen. Es muß auch dafür gesorgt werden, daß er verwirklicht wird – mit Garantien aus Europa und Amerika, sonst geht es nicht.

F: Dort sitzen doch aber die größte Lobbyisten und Unterstützer für Israel.

Gerade deswegen. Warum sollen wir warten, bis noch mehr Schreckliches passiert. Warum? Eines Tages werden wir eingestehen müssen, es gibt keinen anderen Weg als eine Lösung zu finden, die einigermaßen gerecht für beide Seiten ist. So stark die israelische Lobby auch sein mag, sie muß die Gefahr der gegenwärtigen Politik erkennen.

F: Bundesaußenminister Joseph Fischer geriert sich immer mehr als Vermittler im Nahen Osten. Ist er der richtige Mann?

Ich sehe viele Probleme. Die Bundesrepublik sollte sich mit Würde zurückziehen, statt Vermittler zu spielen. Die Bundesrepublik ist nicht geeignet dafür. Deutschland ist durch die Geschichte sehr belastet und leicht erpreßbar. Nicht nur das, die Bundesrepublik hat nur eines im Sinn: die Israelis zu befriedigen, zu zeigen, daß sie ihnen etwas Gutes tut. Herr Fischer soll also nicht sagen, er sei gekommen, um zwischen Palästinensern und Israelis zu vermitteln. In der Realität ist er ein Botschaftsübermittler. Er überbringt jeweils die neueste Drohung von Israel an Arafat. Fischer nimmt Stellung zu den von Palästinensern in Israel verübten Greueltaten. Ich respektiere das sehr. Aber er sagt kein Wort über das schreckliche Verbrechen, das Israel an den Palästinensern verübt. Wir dürfen bitteschön nicht vergessen: Mordanschläge und Attentate gibt es auf beiden Seiten. Vermitteln kann man nur mit Respekt und Würde gegenüber beiden Seiten.

Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: Ich kam einmal zu einem Checkpoint. Hunderte Palästinenser waren dort versammelt, Studenten, Bäuerinnen, einfach alles. Die israelischen Soldaten wollten uns nicht passieren lassen. Dann flogen zwei Hubschrauber über uns hinweg. Panik brach aus. Die Menschen wissen, wenn Kampfhubschrauber kommen, wird irgendwo eine Rakete auf einen politischen Führer gefeuert – und wir haben Hunderte politische Führer. Panik brach also aus. Alle Leute haben geschrien: »Die Hubschrauber, wir werden bombardiert.« Ich versuchte sie zu beruhigen. »Keine Angst, keine Angst«, sagte ich. Wir waren etwa anderthalb Kilometer von Arafats Sitz in Ramallah entfernt. »Keine Angst, Herr Fischer ist zur Zeit in Ramallah bei Arafat. Die Israelis werden jetzt nicht bombardieren.« Die anderen ließen Fischer hochleben: »Juhu, Herr Fischer ist da. Kannst du ihm sagen, er soll bei uns ein Zelt aufschlagen und eine Woche, einen Monat, sechs Monate hier bleiben, damit wir nicht bombardiert werden? Dann hätte er eine Aufgabe erfüllt.«

Wenn Herr Fischer kommt, muß er dafür sorgen, daß wir nicht bombardiert werden, er muß erkennen, wie gedemütigt und entwürdigt wir werden. Er sieht es nicht, und dabei müßte er Stellung nehmen. Eine Vermittlung kann es nur dort geben, wo es den Willen gibt, ein klares ehrliches Wort für beide Seiten zu haben. Gerade deshalb akzeptiert die israelische Führung nur die deutsche Vermittlung. Eine Vermittlung Frankreichs oder Brüssels lehnt Israel ab. Doch wer Friedensvermittler sein will, muß die Macht haben, etwas zu verwirklichen und nicht nur zu reden. Wir haben genug vom Reden, wir wollen Taten sehen.

F: Die israelische Regierung sagte immer wieder, vor neuen Gesprächen muß die palästinensische Autonomiebehörde dafür sorgen, daß zwei Wochen lang keine Anschläge stattfinden. Erst dann könne man sich wieder an einen Tisch setzen.

Und ich sage Ihnen, Israel soll zwei Wochen lang aufhören, Menschen zu attackieren und politische Führer zu liquidieren. Scharon fordert ein Ende von Anschlägen und am nächsten Tag läßt er unsere Führer ermorden. Drei, vier in einer Woche. Wer so handelt, will keine Waffenruhe und keine Gespräche.

Die Forderung Israels nach palästinensischer Waffenruhe bei gleichzeitiger Schwächung Arafats ist doch eine Herausforderung an radikale Gruppen, mit ihren Anschlägen weiterzumachen. So spielen sich die Radikalen auf beiden Seiten die Bälle zu.

Israel muß uns vor Augen führen, daß es Frieden will. Das Israel von heute will keinen Frieden, es will einen Frieden diktieren. Die heutige israelische Politik läuft darauf hinaus, daß wir Palästinenser darum flehen, daß uns erlaubt wird, zu kapitulieren, und daß wir eine solche Kapitulation dann Frieden nennen.

 
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