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»Die Hauptlast wird Hisbollah schultern«

Die libanesische ATTAC-Gruppe hat ein ambivalentes Verhältnis zur Schiitenpartei. 
Ein Gespräch mit Eugene Sensenig-Dabbous

Interview: Thomas Hildebrandt

junge Welt, 31.08.2006 / Ausland / Seite 2 
http://www.jungewelt.de/2006/08-31/012.php  

Wie blickt ATTAC Libanon auf die schiitische Hisbollah?

Wir sind hier relativ gespalten. Die extreme Linke, vor allem das Umfeld der KP, unterstützt die Hisbollah und hält ihre Aktionen, einschließlich der Entführung israelischer Soldaten, für gerechtfertigt. Zugleich gibt es Leute, die der Hisbollah eher ablehnend gegenüberstehen. Denn in Fragen der kulturellen Vielfalt ist sie für uns kein Bündnispartner. Niemand von uns würde dieser Partei aber das Existenzrecht absprechen. Sie ist eine der wichtigsten politischen Kräfte im Land.

Und Ihre Position gegenüber Israel?

Zwischen dem Libanon und Israel herrscht offiziell Krieg. Daher können wir gar nicht anders, als Israel nicht anzuerkennen. Wir waren aktiv an den Protesten gegen die Zerstörung der Infrastruktur im Libanon beteiligt. Aber wegen des erwähnten Zwiespalts gab es keine eigenen Aktionen.

Eine Linke im europäischen Sinne gibt es hier nicht, denn sie hat keine Massenbasis. Eine linke Szene gibt es durchaus, aber keine großen Organisationen, weil man über sie nicht gewählt werden würde. Politischen Erfolg kann man im Libanon immer nur als Mitglied einer bestimmten Konfession haben.

Und die Drusen? Die Partei des Drusenführers Walid Jumblatt heißt doch »Partei des Progressiven Sozialismus«?

Ja, und sie ist auch Teil der Sozialistischen Internationale. Nur hat das mit Sozialdemokratie und der Linken nichts zu tun. Jumblatt ist kulturell aufgeschlossen und liberal, aber seine Partei ist eine Stammespartei wie andere Parteien auch.

Wenn man die Politik im Libanon derart auf den Konfessionalismus reduziert, was ist dann mit der Hisbollah? Ist sie bloß die Schiitenpartei? Sie hat doch ein politisches und soziales Programm.

Es gibt im Land keine Partei, die sich so entschieden wie die Hisbollah der Aufgabe widmet, die arme Arbeiterschaft und die untere Mittelschicht nach Art der Sozialdemokraten und Kommunisten im Europa der 20er und 30er Jahre in progressiven Selbsthilfevereinigungen zu organisieren.

Es heißt oft, das Sozialprogramm der Hisbollah sei lediglich ein Mittel zum Zweck.

Auch die europäische Linke wollte damals der Bevölkerung helfen und zugleich ihre Basis festigen. Die Bereitstellung von Dienstleistungen für die eigenen Mitglieder ist im Libanon sehr wichtig. Doch da beginnen schon die Probleme. Der für Wasser und Strom zuständige Hisbollah-Minister Mohammad Fneish etwa tritt für die Privatisierung aller öffentlichen Dienstleistungen ein.

Wie positionieren sich die internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) im libanesischen System?

Ich halte sie für einen Teil des Problems, denn sie sind mit dem hiesigen Klientelismus verquickt und machen voll mit im System des Vitamin B. Das Sagen haben hier de facto oft Libanesen, und die haben ihre Freunde und Familien. Wer nicht zu den jeweiligen Cliquen gehört, bekommt kein Geld. Die internationalen NGO und Geldgeber denken zwar, sie könnten etwas lenken – in Wahrheit aber halten die Libanesen die Zügel in der Hand. Das gilt auch für die Hizbollah. Ich glaube, daß auch der Iran nicht genau weiß, was hier geschieht. Die Beziehungen zwischen den beiden sind mindestens gleichberechtigt, wenn nicht sogar so, wie eben geschildert. Vergessen Sie nicht, daß die Führung des Iran nicht einheitlich ist – die Hisbollah aber schon. So kann die Partei die verschiedenen Seiten im Iran auch gegeneinander ausspielen.

Was heißt das mit Blick auf den Wiederaufbau?

Wahrscheinlich werden die konfessionellen Kräfte einen beträchtlichen Teil der ins Land fließenden Gelder abzweigen, um ihre Patronage-Netzwerke zu bedienen. Die Hauptarbeit im säkularen Lager wird eine Handvoll engagierter, idealistischer Wohltätigkeitsgruppen leisten. Die schwerste Last aber sowie das, was für die armen und mittleren Schichten in den zerstörten Gebieten wirklich zählt, wird wohl die Hisbollah schultern.