Die Entfesselung des Bösen (Teil I)

Bedrohung Israels?

Tanya Reinhart *, Tel Aviv,
junge Welt vom 08.01.2002»

Dornenfeld« heißt der Operationsplan Israels zum Sturz Arafats und der Palästinenserbehörde. Er existiert schon seit 1996. Jetzt nutzt Scharon die Gunst der Stunde.

* Tanya Reinhart ist Chomsky-Schülerin und Professorin für Linguistik und Kulturwissenschaften an der Universität Tel Aviv. Sie schreibt u.a. für das monatliche Magazin News from within. jW veröffentlicht ihren Aufsatz in zwei Teilen
(Übersetzung: Klaus von Raussendorff).

Folgt man dem gängigen politischen Diskurs, so erscheinen die jüngsten Greueltaten Israels als »Vergeltungsakte«, als Reaktion auf die letzte Welle von Terrorangriffen auf israelische Zivilisten. Tatsächlich aber ist diese »Vergeltung« von langer Hand sorgfältig vorbereitet worden. Schon im Oktober 2000 – vor Beginn des palästinensischen Aufstands – hatten Militärkreise detaillierte Operationspläne zum Sturz von Arafat und der Palästinenserbehörde fertiggestellt. (Der erste Angriff auf israelische Zivilisten erfolgte am 3. November 2000 auf einem Markt in Jerusalem). In einem von Sicherheitsdiensten auf Anforderung des damaligen Premierministers Ehud Barak erarbeiteten Dokument vom 15. Oktober 2000 heißt es, daß »Arafat als Person eine ernste Bedrohung des Staates (Israel) darstellt, und daß der Schaden, der aus seinem Verschwinden resultieren wird, geringer ist als der von seiner Existenz ausgehende Schaden«. (Einzelheiten des Dokuments veröffentlichte Ma’ariv am 6. Juli 2001.) Der Operationsplan mit dem Namen »Dornenfeld« war schon im Jahre 1996 ausgearbeitet worden und wurde dann während der Intifada aktualisiert. (Ha’aretz vom 23. November 2001). Der Plan umfaßt alles, was Israel in der letzten Zeit verwirklicht hat und mehr. 1)

Beweis: Immer in Uniform

Gleichzeitig haben die politischen Spitzen um Barak daran gearbeitet, die öffentliche Meinung auf den Sturz von Arafat vorzubereiten. Am 20. November 2000 verbreitete Nahman Shai, der damalige Koordinator für Öffentlichkeitsarbeit der Barak-Regierung, bei einem Treffen mit der Presse ein 60seitiges Dokument, das den Titel trug »Verstöße der Palästinenserbehörde ... Eine Bilanz der Böswilligkeit und des Fehlverhaltens«. Das Dokument, informell »Weißbuch« genannt, war von dem Mitarbeiter Baraks Danny Yatom erarbeitet worden. 2) Laut »Weißbuch« ist Arafats derzeitiges Verbrechen – »die Orchestrierung der Intifada« – nur das letzte in einer langen Kette, die alle bewiesen, daß er die »Option der Gewalt und des ›Kampfes‹« niemals fallengelassen hat. »Schon bei seiner Rede auf dem Rasen vor dem Weißen Haus am 13. September 1993 gab es Anzeichen, daß für ihn die D.O.P (declaration of principles – Grundsatzerklärung) nicht notwendigerweise ein Ende des Konflikts bedeutete. Er hat zu keinem Zeitpunkt seine Uniform abgelegt, das Symbol für seinen Status als revolutionärer Kommandeur.« Diese Uniform ist übrigens das einzige »Anzeichen«, das der Bericht für Arafats verborgene, angeblich schon damals gehegte Absichten anführt.

Ein längerer Abschnitt des Dokuments legt angeblich Arafats »zweideutige und zustimmende Haltung« zum Terror dar. Darin heißt es: »Im März 1997 gab es erneut mehr als einen Hinweis auf ›Grünes Licht‹ von Arafat für Hamas vor den Bombenattentaten in Tel Aviv ... Das geht indirekt aus einer Stellungnahme eines Hamas nahestehenden Mitglieds von Arafats Kabinett, Imad Faluji, gegenüber einer US-amerikanischen Zeitung hervor (Miami Herald vom 5.4.1997).« Weitere Hinweise, wie Arafat mit den Bombenattentaten in Verbindung steht, gibt es zwar nicht, aber schon gibt es das Thema »Grünes Licht für den Terror«, das der Militärgeheimdienst (Ama’a) ab 1997 ins Spiel bringt, seitdem sich seine Anti-Oslo-Linie verfestigt hat. Dieses Thema ist seitdem von Militärkreisen ständig wiederholt worden; es wurde schließlich das Mantra der israelischen Propaganda – Arafat ist immer noch ein Terrorist, und er ist persönlich für die Taten aller Gruppen von Hamas und Islamischem Dschihad bis Hisbollah verantwortlich.

Der Foreign Report (Jane’s information) vom 12. Juli 2001 enthüllt, daß die israelische Armee (unter der Regierung Ariel Scharon) ihren Plan für einen »Generalangriff zur Zerschlagung der Palästinenserbehörde, Vertreibung ihres Führers Jassir Arafat und Tötung oder Gefangennahme ihrer Armee« aktualisiert hat. Der Planentwurf unter dem Titel »Zerstörung der Palästinenserbehörde und Entwaffnung aller Streitkräfte« wurde der israelischen Regierung von Generalstabschef Shaul Mofaz am 8. Juli 2001 vorgelegt. Ausgelöst werden sollte der Angriff, wann immer die Regierung dies nach einem großen Selbstmordanschlag in Israel mit vielen Toten und Verwundeten für richtig hielt und dabei die Bluttat als Rechtfertigung anführen konnte.

In Israel haben viele den Verdacht, daß die Ermordung des Hamas-Terroristen Mahmoud Abu Hanoud darauf angelegt war, die geeignete »Bluttat-Rechtfertigung« am Vorabend von Scharons Reise in die USA zu schaffen. Denn der Mord erfolgte zu einem Zeitpunkt, als Hamas schon zwei Monate lang die Vereinbarung mit Arafat einhielt, innerhalb von Israel nicht anzugreifen. (So stellte Alex Fishman, angesehener sicherheitspolitischer Korrespondent von Yediot, fest, daß »wer auch immer über die Liquidierung von Abu Hanoud entschied, im Voraus wußte, dies würde der Preis sein. Die Angelegenheit wurde ausführlich diskutiert, sowohl von den militärischen Spitzen Israels wie von politischen, bevor entschieden wurde, die Liquidierung auszuführen«. Yediot Aharonot vom 25. November 2001).

Israels Aktionen zur Zerstörung der Palästinenserbehörde können daher nicht als ein spontaner »Akt der Vergeltung« angesehen werden. Es handelt sich um einen wohlüberlegten Plan, an dem seit langem gearbeitet wird. Die Ausführung erforderte zunächst, den palästinensischen Widerstand zu schwächen, woran Israel seit Oktober 2000 systematisch gearbeitet hat und zwar durch die Tötung von Menschen, durch die Bombardierung der Infrastruktur, die Abriegelung der Bevölkerung in ihren Siedlungen sowie durch Maßnahmen, mit denen die Menschen dem Verhungern nahegebracht wurden. All dies in der Erwartung, daß die internationalen Bedingungen für die »weiteren« Schritte dieses Plans »heranreiften«.

Inzwischen ist alles möglich

Nun scheinen die Bedingungen »herangereift« zu sein. In der machttrunkenen Atmosphäre in den USA ist inzwischen alles möglich geworden. Wenn es zunächst so schien, als ob die USA versuchen würden, die arabische Welt durch einige Beschwichtigungsgesten auf ihrer Seite zu halten, wie sie dies im Golf-Krieg getan hatten, so ist nun klar, daß ihnen dies alles völlig egal ist. Die US-Politik beruht nicht länger auf Koalitionsbildung oder Beschwichtigung, sondern auf blanker Gewalt. Der überwältigende »Sieg« in Afghanistan war eine klare Botschaft an die »Dritte Welt«, daß nichts mehr die USA stoppen kann, jede Nation zur Vernichtung ins Visier zu nehmen. Sie scheinen in der Tat zu glauben, daß die entwickeltsten Waffen des 21. Jahrhunderts in Verbindung mit einer völligen Absage an jegliche Erwägungen moralischer Prinzipien, des internationalen Rechts oder der öffentlichen Meinung sie für immer zu den Herrschern der Welt machen könnten. Von nun an soll Angst ausreichen, um Gehorsam zu erzwingen.

Die US-Falken, die darauf drängen, den Krieg auf den Irak und darüber hinaus auszudehnen, sehen Israel als Aktivposten. Es gibt wenige Regime in der Welt, die wie Israel so leicht geneigt sind, das Leben ihrer Bürger für einen neuen regionalen Krieg aufs Spiel zu setzen. Wie Prof. Alain Joxe, der Leiter von CIRPES (einer französischen Institution für friedens- und sicherheitspolitische Studien) in Le Monde gesagt hat, »wird die US-amerikanische Führung gegenwärtig von gefährlichen Rechtsextremisten aus dem Süden maßgeblich beeinflußt, die versuchen, Israel als Angriffswerkzeug zu benutzen, um den ganzen Mittleren Osten zu destabilisieren«. (17. Dezember 2001). Dieselben Falken sprechen auch davon, die künftige Kriegszone auf Ziele auszudehnen, die auf Israels Tagesordnung stehen, wie z. B. die Hisbollah und Syrien.

Unter diesen Umständen hat Scharon in Washington sein grünes Licht bekommen. Und die israelischen Medien heulen vor Entzücken: »Bush hat von diesem Typen (Arafat) die Schnauze voll«, »Powell erklärte, daß Arafat aufhören muß zu lügen«. (Yediot vom 7. Dezember 2001) Während Arafat sich in seinem Bunker versteckt hält, israelische F-16-Bomber den Himmel durchpflügen und Israels Brutalität täglich neue verzweifelte menschliche Bomben hervorbringt, drängen die USA, von der Europäischen Union seit geraumer Zeit flankiert, Arafat immer wieder zu »handeln«.

Israels Erwartungen erfüllt

Aber was steckt als rationale Überlegung hinter Israels systematischem Drängen auf Ausschaltung der Palästinenserbehörde und der Annullierung der Vereinbarungen von Oslo? »Enttäuschung« über Arafats Leistungen ist, wie meist behauptet wird, mit Sicherheit nicht der Grund dafür. Tatsache ist, daß Arafat Israels Erwartungen in all den Jahren erfüllt hat, auch vom Standpunkt des israelischen Interesses an einer Aufrechterhaltung der Besatzung.

Soweit es um Israels Sicherheit geht, ist von der Wahrheit nichts weiter entfernt als die Beschuldigungen in dem »Weißbuch« und die daran anschließende israelische Propaganda. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Jahre 1997 – dem Jahr, das im »Weißbuch« als Musterfall für Arafats »Grünes Licht für den Terrorismus« erwähnt wird, – wurde unter der Schirmherrschaft des Leiters der CIA-Dienststelle in Tel Aviv, Stan Muskovitz, ein »Sicherheitsabkommen« zwischen Israel und der Palästinenserbehörde unterzeichnet. Das Abkommen verpflichtet die Palästinenserbehörde, aktiv für die Sicherheit Israels tätig zu werden – »die Terroristen, die terroristischen Basen und die Umfeldbedingungen, die der Unterstützung von Terror förderlich sind«, in Zusammenarbeit mit Israel zu bekämpfen, einschließlich »des gegenseitigen Austausches von Informationen, Ideen und militärischer Zusammenarbeit« [Absatz 1] (übersetzt aus dem hebräischen Text in Ha’aretz vom 12. Dezember 1997). Arafats Sicherheitsdienste erledigten diesen Job zuverlässig durch die Ermordung von Hamas-Terroristen – getarnt als »Unfälle« – und durch Verhaftungen von politischen Führern von Hamas. 3)

Über diese Aktivitäten wurde in den israelischen Medien ausgiebig informiert, und »Quellen im Sicherheitsapparat« waren über Arafats Leistungen des Lobes voll. So verkündete zum Beispiel Ami Ayalon, damals Leiter des israelischen Geheimdienstes (Shab‘ak), in der Sitzung der Regierung vom 5. April 1998, daß »Arafat seinen Job erledigt – er bekämpft den Terror und setzt sein ganzes Gewicht gegen Hamas ein«. (Ha’aretz vom 6. April 1998) Die Erfolgsquote der israelischen Sicherheitsdienste bei der Eindämmung des Terrors war nie höher als die von Arafat, sie war tatsächlich viel niedriger.

Kollaborateur wie Befreier

In linken und kritischen Kreisen kann man kaum Mitleid mit Arafats Geschick antreffen (im Gegensatz zur Tragödie des palästinensischen Volkes). Wie David Hirst in The Guardian schreibt, kam Arafat 1994 bei seiner Rückkehr in die besetzten Gebiete »ebenso als Kollaborateur wie als Befreier. Für die Israelis war Sicherheit – die Sicherheit der Israelis nicht der Palästinenser – das ein und alles von Oslo. Arafats Job war es, diese in ihrem Namen durchzusetzen. Aber er konnte die Rolle des Kollaborateurs nur beibehalten, wenn er die politische Gegenleistung bekam, die angeblich durch eine Serie von ›Interimabkommen‹ auf dem Wege zum ›Endstatus‹ erreicht werden sollte. Dies aber hat er nie vermocht ... (In der Zwischenzeit) fand er sich dazu bereit, immer mehr Konzessionen zu machen, die nur die Kluft noch vergrößerten, die zwischen dem, was er tatsächlich erreichte, und dem, was er, wie er seinem Volk versicherte, mit dieser Methode schließlich erreichen würde, bestand. Er war immer noch Mister Palästina mit dem ihm eigenen Charisma und seiner historischen Legitimation. Aber er erwies sich als Versager bei dieser anderen großen und umfassenden Aufgabe, seinen Staat-im-Werden aufzubauen. Wirtschaftliche Not, Korruption, Verletzung der Menschenrechte, die Schaffung eines ausgedehnten Repressionsapparates – all dies ging, ganz oder teilweise von der Behörde aus, der er vorstand.« (Hirst: Arafat’s last stand?, The Guardian vom 14. Dezember 2001)

Aber aus der Perspektive der israelischen Besatzung bedeutete all dies, daß der Oslo-Plan im wesentlichen erfolgreich war. Arafat schaffte es, durch scharfe Repressionsmaßnahmen die Frustration seines Volkes einzudämmen und die Sicherheit der Siedler zu garantieren, während die Israelis weiterhin ungestört neue Siedlungen bauten und noch mehr palästinensisches Land enteigneten. Die Repressionsmaschine, Arafats diverse Sicherheitskräfte, wurde in Zusammenarbeit mit Israel aufgestellt und ausgebildet. Viel Energie und Mittel wurden in die Aufstellung dieses komplexen Oslo-Apparates hineingesteckt. Häufig wird zugegeben, daß die israelischen Sicherheitskräfte keineswegs besser als Arafat in der Lage sind, Terror zu vereiteln. Warum waren dann aber die militärischen und politischen Spitzen schon im Oktober 2000 so entschlossen, all dies zu zerstören, noch bevor der Terror begann? Eine Antwort darauf erfordert einen Blick in die Geschichte.

1) Einzelheiten dieses Operationsplans siehe: Anthony Cordesman: Peace and War: Israel versus the Palestinians A second Intifada? Center for Strategic and International Studies (CSIS), December 2000

2) Dieses Dokument ist zugänglich unter: http://www.gamla.org.il/english/feature/intro.htm

3) Einen Überblick über Morde der Palästinenserbehörde an Hamas-Terroristen enthält mein Artikel »The A-Sherif affair«, Yediot Aharonot, 14. April, 1998, http://www.tau.ac.il/~reinhart/political/A_sharif.html

(Zweiter Teil: Warum so eilig?)

 
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