Krieg und Terror
Angst vor Atomwaffen in Scharons Hand

ND-Gespräch mit dem Journalisten und Friedensaktivisten Gideon Spiro
Neues Deutschland, 24.10.01

Gideon Spiro (66) wurde in Berlin geboren und emigrierte 1939 nach Palästina. Der heutige Journalist ist Mitbegründer des Komitees für Mordechai Vanunu und einen von ABC-Waffen freien Nahen Osten. Als Berufsoffizier der israelischen Armee nahm er an den Kriegen 1956, 1967 und 1973 teil, quittierte aber 1982 aus Protest gegen den Einmarsch in Libanon den Dienst.
Mit ihm sprach in Jerusalem Peter Schäfer.

ND: Der »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan wird sich möglicherweise bald auf andere Staaten der Region ausdehnen. Viele Menschen fürchten sich vor einem »Dritten Weltkrieg«. Welche Rolle wird Israel in diesem Krieg einnehmen?

Für mich als Israeli stellt sich eher die Frage, wie die Gefahr, die von Israel ausgeht, gebannt werden kann. Wir haben die Atombombe und eine rechte Regierung. Wir haben hier radikale Rabbiner, Fundamentalisten wie in Iran, die immer mehr an Einfluss gewinnen. Das versteht man in Europa nicht. Ariel Scharon hat einst gedroht, die Ölquellen in Saudi-Arabien zu bombardie-ren. Jetzt ist er an der Macht. Das ist gefährlich.

ND: Wie wird ein möglicher Nuklearschlag in Israel diskutiert?

Gar nicht. Die Regierung sagt ja, dass wir keine Atom-bomben haben. Offiziell wird im Kernreaktor Dimona in der Wüste Negev nur geforscht. Wir bauen doch die Infrastruktur nur auf, um schnell aufrüsten zu können, falls ein anderes Land der Region Atomwaffen hat.

ND: Gibt es Beweise für die Atomwaffe?

Sicher. Unsere Regierung hat schon in den 50er Jahren mit dem Bau des Reaktors angefangen. Erst wurde er als Textilfabrik bezeichnet, dann wurde versprochen, ihn internationalen Kontrollen zugänglich zu machen. Das ist natürlich nie passiert. Bis in die 80er Jahre hinein hat man angenommen, dass Israel etwa 30 Atomsprengköpfe hat. Bis zum Fall Vanunu. Mordechai Vanunu, der in Dimona gearbeitet hat, hat das ganze Programm dokumentiert und 1986 der Londoner Zei-tung »Sunday Times« übergeben. Das war der erste wirkliche Beweis.

ND: Und Israel musste den Besitz zugeben.

Nein, die offizielle Politik hat sich nicht geändert. Sie halten alles neblig. Aber den Beweisen nach hatten wir 1986 schon über 100 Kernprengköpfe. Schon damals war Israel also eine Atommacht in der Größenordnung von Frankreich, England oder China. Wir schätzen, dass sich bis heute die Zahl mehr als verdoppelt hat.

ND: Was passierte mit Vanunu?

Er wurde wegen Hochverrats zu 18 Jahren Haft ver-urteilt. Davon hat er elf in Isolation verbracht. Seine Briefe werden zensiert. Ein Politiker sagte mal, dass sie ihn erst raus lassen wollen, wenn er verrückt geworden sei. Für den Fall interessiert sich aber fast niemand. Genauso wie in Israel insgesamt die atomare Frage nicht diskutiert wird.

ND: Wird die Atombombe von allen Parteien befür-wortet?

Ja, dieser Konsens geht von den Extremrechten bis Mitte-Links. Sogar Meretz, eine gewisse Parallele zu den deutschen Grünen, ist für die Atombombe. Jossi Sarid, der Vorsitzende von Meretz, war Umweltmini-ster in der Regierung Rabin. Damals kamen Fragen nach dem Atommüll in Dimona und dessen Gefahr für das Grundwasser auf. Sarid hat einfach gesagt, das alles in Ordnung sei.

ND: Die deutschen Grünen machen jetzt auch Kom-promisse.

Ja, sehr enttäuschend. Joschka Fischer hat vor 14 Jah-ren den Aufruf für die Freilassung Vanunus und zum Abbau der israelischen Atomwaffen unterzeichnet. Jetzt sind die Grünen an der Macht und haben vor einem Jahr drei U-Boote an Israel geliefert, die mit nuklearen Waffen bestückt wurden. Die Verwendung der Boote stand fest. Dabei hat Israel noch nicht einmal den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet.

ND: Wurde deswegen jemals Druck auf Israel ausge-übt?

Das ist ja das Paradoxe! Der Irak wird zerbombt, weil er sein Vernichtungspotenzial nicht offen legen will. Bei Israel werden beide Augen zugedrückt. Ist denn die jüdische Radioaktivität ungefährlicher als andere? Da werden verschiedene Standards angelegt. Jeder, der die Menschenrechtsverletzungen Israels kritisiert, wird als Antisemit beschuldigt und so zum Schweigen gebracht.

ND: Wie sollte Ihrer Meinung nach Israel denn behan-delt werden?

Israel sollte man behandeln, wie man das Apartheid-Regime in Südafrika behandelt hat: mit einer interna-tionalen Blockade. Israel muss wissen, dass es nicht Teil der demokratischen Welt sein kann, solange es die seit 34 Jahren währende Besatzung der palästinensi-schen Gebiete und das Apartheidsystem dort aufrecht-erhält. Und die Atomwaffen müssen wieder abgebaut werden. Iran sagt heute, dass Israel nicht die einzige Nuklearmacht im Nahen Osten bleiben darf. Israel hat in der Region den Rüstungswettlauf in Gang gesetzt.

ND: Aber vor dem Hintergrund des Holocaust ist die Unterstützung Israels doch verständlich?

Menschenrechte sind unteilbar. Das ist die Lehre aus dem Holocaust. Man hat das hier nicht und auch nicht in Deutschland verstanden. Israel verletzt die Men-schenrechte täglich und rechtfertigt sich damit, die Vernichtung Israels, einen zweiten Holocaust verhin-dern zu wollen. Das ist doch eine Verhöhnung der Op-fer von Auschwitz! Unsere heutige Regierung ist extrem rechts, unser Ministerpräsident ist ein Kriegsverbre-cher. Und jemand wie er hat heute die Verfügungsge-walt über Atomwaffen. Das macht mir Angst.

(ND 24.10.01)