Schaut genau hin, wer entführt wurde!

von Arik Diamant
YNet 05.07.2006
http://www.zmag.de/artikel.php?id=1863

* Arik Diamant ist ein IDF-Reservist und der Chef der Organisation“Mut zum Verweigern“

Es ist in den frühen Morgenstunden, es ist noch dunkel. Eine Guerillagruppe kommt von irgendwo her, um einen Soldaten zu kidnappen. Nach Stunden sehr vorsichtiger Bewegung erreicht die Gruppe ihr Ziel. Der Überfall beginnt. Innerhalb von Sekunden sieht der Soldat nur noch einen Gewehrlauf ( ?) Ein Schlag ins Gesicht mit dem Gewehrkolben. Der Soldat fällt blutend auf den Boden. Die Kidnappers packen ihn, fesseln ihm die Hände und verbinden ihm die Augen - und verschwinden mit ihm in der Nacht.

Das kann das Ende der Entführung sein – doch der Alptraum beginnt nun. Die Mutter des Soldaten bricht zusammen, sein Vater betet. Seine Kommandooffiziere versprechen, alles zu tun, um ihn zurück zu bekommen. Die Kameraden schwören Rache. Eine ganze Nation ist in Aufruhr und schreibt voller Schmerz und Sorge. Keiner weiß, wie es dem Soldaten geht. Ist er verletzt? Behandeln ihn die Entführer wenigstens mit einem Minimum von menschlichem Anstand? Oder quälen sie ihn zu Tode und trampeln auf seiner Ehre herum? Die schlimmste Form des Leidens ist nicht bekannt. Wird er nach Hause kommen . Und wenn ja, wann? In welchem Zustand? Kann jemand bei solch einem Drama gleichgültig sein?

Israelischer Terror

Überrascht wird man dies zur Kenntnis nehmen; denn diese Beschreibung hat nichts mit dem Kidnappen von Gilad Shalit zu tun. Es ist die Geschichte einer Verhaftung. Und ich führte sie als IDF-Soldat in der Altstadt von Nablus vor 10 Jahren durch . Der „Soldat“ war ein 17-Jähriger. Wir entführten ihn, weil er „etwas“ über jemanden wusste, der „etwas“ getan hatte.

Wir brachten ihn gefesselt mit einem Sack über dem Kopf in ein Verhörzentrum des Shin Bet, das als „Schrei –Hügel“ bekannt war. (Damals dachten, wir das sei Spaß). Dort wurde der Gefangene geschlagen, schwer geschüttelt, Wochen oder Monate lang am Schlafen gehindert. Wer weiß?

Keiner schrieb darüber in der Zeitung. Europäische Diplomaten wurden nicht um Hilfe gebeten. Es war einfach nichts Ungewöhnliches, das Kidnappen dieses palästinensischen Jugendlichen. Während der 40 Jahre Besatzung haben wir Tausende Leute – genau wie Gilad gefangen genommen. Mit einem Gewehr bedroht, gnadenlos geschlagen, ohne Richter und Gericht, ohne Zeugen und ohne der Familie irgend eine Information über den Gefangenen zukommen zu lassen. Wenn die Palästinenser dies tun, nennen wir es Terror. Wenn wir es tun, machen wir Überstunden, um die Brutalität zu übertünchen (whitewash).

Verdächtige?

Einige Leute werden sagen: „Die IDF entführt nicht „nur“. Diese Leute sind „Verdächtige“. Doch gibt es keine perversere Lüge als dies. In all den Jahren, in denen ich meinen Militärdienst machte , kam ich zu einer einfachen Schlussfolgerung. Was macht einen „Verdächtigen“ aus? Wer genau verdächtigt ihn und wegen was wird er verdächtigt?

Wer hat das Recht, einen 17-Jährigen zu verurteilen, dass er entführt, gefoltert und möglicherweise getötet wird? ein 26 jähriger Shin Bet-Verhörer? Oder ein 46-jähriger. Haben diese Leute eine höhere Bildung, abgesehen von der Fähigkeit zu verhören. Nach welchen Gesichtspunkten urteilt er? Wenn alle diese „Verdächtigen“ so schuldig sind, warum bringt man sie dann nicht vor Gericht? Jeder der annimmt, dass trotz den Fehlens von Transparenz die IDF und der Shin Bet ihr Bestes tun, um die Verletzungen der Menschenrechte so gering wie möglich zu halten, ist naiv, wenn nicht gehirngewaschen. Man muss nur die Berichte von Soldaten lesen, die in Verwaltungshaftzentren gearbeitet haben, um von der Schwere der Unmoral unserer Aktionen in den besetzten Gebieten überzeugt zu werden. Bis zum heutigen Tag verrotten Hunderte von Gefangenen in Shin Bet-Gefängnissen und Kerkern, Leute, die niemals verurteilt worden sind und nie verurteilt werden. Und Israelis haben sich schweigend mit diesem Phänomen abgefunden.

Israelische Verantwortung

An dem Tag, an dem Gilad entführt wurde, fuhr ich in einem Taxi. Der Fahrer sagte zu mir, wir sollten in den Gazastreifen „reingehen“ und einen nach dem andern abschießen bis jemand das Schweigen bricht und die Geisel freilässt. Es ist keinesfalls klar, dass solch eine Operation Gilad lebend zurückbringt.

Anstelle in eine terroristischen Re-Aktion hineingezogen zu werden, wie es die palästinensische Gesellschaft getan hat, sollten wir einige der Soldaten und Zivilisten , die wir entführt haben, frei lassen. Das wäre angemessen, richtig und könnte auch eine Atmosphäre der Versöhnung in den besetzten Gebieten schaffen. Wenn es dies ist, was Gilad sicher und gesund nach Hause bringt, dann haben wir ihm gegenüber die Verantwortung, dies zu tun.