Humanitäre Katastrophe
Harald Neuber  

telepolis, 23.07.2003

Aus den Vereinten Nationen und in Israel mehrt sich die Kritik am Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte in den palästinensischen Gebieten; UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler spricht von katastrophaler Ernährungssituation

Zum ersten Mal werde der Druck aus Washington für eine friedliche Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern ernst genommen. "Das war neu für mich", resümiert Jean Ziegler nach einer zehntägigen Reise durch die palästinensischen Autonomiegebiete. Weil die US-Armee im Irak in einem langwierigen militärischen Konflikt zu versinken droht, könne sich US-Präsident George W. Bush keinen zweiten Krisenherd in der Region leisten, so der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung im Gespräch mit Telepolis. Tatsächlich hat das Engagement der US-Administration im Nahen Osten inzwischen erstaunliche Ausmaße erreicht. Während der palästinensische Ministerpräsident Mahmut Abbas am 25. Juli zum ersten Mal mit dem US-Präsidenten in Washington zusammenkommt, wird es für den israelischen Premier Ariel Scharon vier Tage später bereits das achte Treffen sein.

Besonders auf palästinensischer Seite wird diese neue Rolle der USA begrüßt. Der dortige Planungsminister Nabil Kassis zeigte sich bei einem Arbeitsbesuch in den USA in der Woche vor den Gesprächen zwischen Bush und Abbas zufrieden darüber, dass sich auch Politiker wie Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice in die Vermittlungen eingeschaltet haben.

Ein Hauptstreitpunkt in der zweiten von drei Phasen des sogenannten Friedensfahrplanes zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiebehörden betrifft die Zukunft der inhaftierten Palästinenser. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) verbüßen in israelischen Gefängnissen derzeit rund 7.700 Palästinenser Haftstrafen, rund 1.000 von ihnen werden ohne Anlage oder Verfahren festgehalten. Die Diskussion um ihre Zukunft hat auch bei einem Treffen zwischen Ariel Scharon und Mahmut Abbas am vergangenen Sonntag eine zentrale Rolle gespielt. Während die palästinensische Seite die Freilassung aller Gefangenen fordert, hat die Regierung Scharon bislang lediglich die Haftentlassung von rund 350 Personen angekündigt. Unter ihnen sollen sich zwar sogar Mitglieder der radikalislamischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad befinden. Nach Aussage ranghoher israelischer Politiker steht ihrer Freilassung aber nur dann nichts im Wege, "sofern sie kein israelisches Blut an ihren Händen kleben haben". Eine recht freie Formulierung.

Die Situation der gefangenen Palästinenser hat auch den UN-Mann Ziegler beschäftigt. "In dieser zweiten Phase des Friedensfahrplans hat Israel seine wesentlichen Verpflichtungen nicht erfüllt", beklagt der gebürtige Schweizer. Während die palästinensischen Autonomiebehörden einen Waffenstillstand ausgerufen "und weitgehend eingehalten haben", dehne die israelische Armee die sogenannten Sicherheitszonen weiter aus, verweigere die Freilassung gefangener Palästinenser und beschlagnahme weiteres Land. Trotzdem sieht Ziegler Hoffnung: "Dass überhaupt Gespräche zwischen beiden Seiten stattfinden, das ist schon ein kleiner, ganz kleiner, aber doch reeller Fortschritt".

Das größte Hindernis für einen dauerhaften Frieden in der Region sieht Jean Ziegler in der wirtschaftlichen Misere der Menschen in den besetzten Gebieten, in denen "eine humanitäre Katastrophe" stattfinde:


Die palästinensischen Autonomiegebiete umfassen 5800 Quadratkilometer, auf denen etwa 3,8 Millionen Menschen leben. Nach den jüngsten Angaben der Weltbank vom 30. März dieses Jahres ist das Bruttoinlandprodukt der besetzten Gebiete in den letzten anderthalb Jahren um 46 Prozent eingebrochen.

Dann referiert er die Zahlen. Mehr als 61 Prozent der Bevölkerung lebe in extremer Armut. Über die Hälfte der Haushalte habe nur eine Mahlzeit pro Tag zu Verfügung. 35 Prozent der Kinder unter zehn Jahren litten an Anämie. Jedes fünfte Kind unter fünf Jahren erleide wegen permanenter Unterernährung schwerste Gehirnschäden und über 82 Prozent der Gesamtbevölkerung lebte ausschließlich von der internationalen Hilfe. "Und all das geschieht in einem so fruchtbaren Agrargebiet", beklagt der ehemalige Nationalrat im Schweizer Parlament der Eidgenossenschaft und Mitglied des Exekutivkomitees der Sozialistischen Internationale.

Damit knüpft Ziegler an eine Kritik an, die in den vergangenen Jahren auch in Israel zugenommen hat. Moshe Ingel, Reservist der israelischen Armee und aktives Mitglied der israelischen Reservistengruppe Courage to Refuse sieht in der Besatzung "eine der eigentlichen Gefahren für den Staat Israel". Auf eine Vortragsreise durch Deutschland warb Ingel vor wenigen Wochen für die Unterstützung der Opposition innerhalb des Militärs. "Ohne Zweifel braucht Israel in Anbetracht der politischen Lage in der Region eine Armee", sagt Ingel, aber erst die Besatzungspolitik bringe den Konflikt mit den Palästinensern immer wieder zum auflodern und schüre in der arabischen Welt den Hass gegen Israel. "Courage to Refuse" hatte im Februar vergangenen Jahres mit einem offenen Brief aktiver Militärs gegen die Besatzungspolitik in Israel für Aufsehen gesorgt.

Militärische Besetzung ist direkt verantwortlich für die katastrophale Nahrungsmittelsituation

In seinem Bericht an UN-Generalsekretär Kofi Annan wird Ziegler auf die "katastrophale Ernährungssituation" in den besetzten Gebieten eingehen. "Es gibt dort genügend Nahrung, aber der Zugang zu ihr wird verwehrt", sagt er. Palästinensisches Agrarland werde konfisziert, um neue Kolonien und neue militärische Sicherheitszonen zu schaffen.


Im Gazastreifen haben wir Tausende von entwurzelten Orangenbäume gesehen, die von den Panzern fünf Tage vor unserer Ankunft am 28. Juni zerstört wurden. 40 Prozent der Trinkwasserreserven der palästinensischen Gebiete werden von der Besatzungsmacht auf das israelische Gebiet umgeleitet.

Durch die Ausgangsperre und die Abriegelung von Städten und Dörfern werde der Warenverkehr fast vollständig unterbrochen, so dass es keine Märkte mehr gebe.

Parallel zu Zieglers Stellungnahmen forderte auch der Nahostbeauftragte der Vereinten Nationen, Terje Roed-Larsen, die Demontage des seit einigen Monaten im Bau befindlichen Sicherheitszaunes um palästinensische Siedlungen im Westjordanland. Durch die Grenzanlage werde die Bildung eines lebensfähigen palästinensischen Staates verhindert, so Roed-Larsen. Derzeit ist knapp die Hälfte des 600 Kilometer langen Zaunes fertiggestellt. "Diese Anlage unterbricht auch den Zugang zu fruchtbaren Land", meint Ziegler. Die militärische Besetzung sei somit kausal direkt verantwortlich für die katastrophale Nahrungsmittelsituation.

"Ich habe während der zehn Tage in der Region auch mit israelischen Generälen sprechen können", führt der UN-Mann Ziegler aus. Und auch von ihnen sei die miserable humanitäre Lage in den palästinensischen Gebieten "anerkannt und bedauert" worden. "Mir will nicht einleuchten, warum die Abriegelungen die Bewegungen von widerstandswilligen Palästinenser verhindern soll", so der UN-Sonderberichterstatter. Zwar seien die Straßenzugänge abgeriegelt, über die Berge aber könne man die Grenzen immer noch passieren. "Die Abriegelung, die Ausdehnung der Sicherheitszonen und die Vernichtung von Gemüsefeldern garantiert die Sicherheit nicht", sagt er. Die Abriegelung wirke daher wie eine Repressionsmaßnahme.

Ob er dem Friedensfahrplan trotzdem eine Chance gebe? "Ja, denn es ist die einzig existente Gesprächsbasis." Wichtig sei aber auch die politische Diskussion innerhalb Israels. "Von unserer Warte aus privilegieren wir oft Gruppen wie  Gush Shalom, wenn es um die Opposition zu der Militärpolitik der amtierenden Regierung geht", sagt er. Tatsächlich habe er mehrere Rabbiner getroffen, die aus religiöser und individueller Überzeugung Friedensarbeit leisten. Das zu erwähnen sei wichtig, weil es verhindere, dass der Konflikt entlang religiöser Trennlinien definiert wird. Er jedenfalls habe den Eindruck, "dass die Lage in Israel politisch viel heterogener ist, als im Ausland oft wahrgenommen."


Jean Ziegler ist Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung
Zuletzt erschien von ihm: "Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher" bei C. Bertelsmann (320 Seiten, 22,90 Euro).