»Wir kämpfen wieder«

Verzweiflung führt zu Verzweiflungstaten. Über den palästinensischen Widerstand

Peter Schäfer, Ramallah - junge Welt vom 08.12.2001
 
Ein bedrohliches Brummen nähert sich. Die Quelle des Geräusches ist aber noch nicht auszumachen. Da senken sich zwei israelische Kampfhubschrauber durch die geschlossene Wolkendecke, richten sich aus und schießen nacheinander drei Raketen auf das palästinensische Hauptquartier in Ramallah. Spielende Kinder, die den Angriff ebenfalls beobachten, rennen schreiend ins Haus. Eine Frau, die nebenan Wäsche vor ihrem Haus aufhängt, starrt nur gebannt zum Himmel. Die Helikopter bleiben noch eine Weile in der Luft stehen, wie um zu sehen, ob noch nachgelegt werden muß. Dann drehen sie ab, fliegen durchs Tal zurück zu ihrer Basis.

Feuerwehr und mehrere Krankenwagen rasen mit Blaulicht zur Einschlagsstelle, viele Bewohner Ramallahs tun es ihnen nach. »Zwei meiner Kollegen wurden verletzt«, sagt ein Polizist vor Ort. »Gott sei Dank ist niemand getötet worden.« Er ist damit beschäftigt, Schaulustige von dem zerstörten Haus fernzuhalten. »Wir müssen uns erst vergewissern, ob da nicht noch Raketen liegen, die noch nicht explodiert sind.« Plötzlich knallt es in unmittelbarer Nähe, die Menschen rennen panisch weg. Es war aber nur eine beschädigte Hochspannungsleitung, die offen auf dem Boden liegt. »Das ist nur der Strom«, ruft einer. Erleichterndes Gelächter.

»Vielleicht ist es jetzt ja vorbei«, bemerkt ein Passant. »Wir haben sowieso schon die ganze Nacht darauf gewartet. Die kreisenden Hubschrauber und Kampfjets machen mir mehr Angst als die tatsächliche Bombardierung.« In Erwartung eines Angriffes hatte er seine Familie bereits am Sonntag abend zu Verwandten nach Ost-Jerusalem gebracht. Er selbst arbeitet in Ramallah und kann nicht weg.

Nach den blutigen Terroranschlägen in West-Jerusalem und Haifa am vergangenen Wochenende, bei denen 25 Israelis ermordet wurden, haben alle Luftschläge Israels befürchtet. Tatsächlich sind seither alle größeren palästinensischen Städte von Kampfflugzeugen und -hubschraubern teilweise mehrmals beschossen worden. Die Ziele der Raketen waren zwar meist Polizeistationen, umherfliegende Splitter und Steine verletzten aber über 100 Menschen. In Gaza starb dabei am Dienstag ein 15jähriger Junge in seiner Schule, 60 weitere Schulkinder wurden verletzt.

Nächtliche Gefechte

Der Himmel über Al-Tireh, einen westlichen Vorort von Ramallah, ist von Leuchtspurgeschossen taghell erleuchtet. Palästinensische Guerillas beschießen mit ihren Kalaschnikows die dort am Montag eingerückten israelischen Panzer. Diese schießen mit ihrem schweren Maschinengewehr und ihrer Bordkanone zurück. Die Auseinandersetzungen flammen die ganze Nacht lang immer wieder auf. Fast jede Nacht. Mehrere Stadtteile Ramallahs sind von Panzern belagert, über die dort lebenden Menschen wurde eine Ausgangssperre verhängt. Soldaten besetzten einige Häuser und vertrieben die Bewohner. Davon seien allein in Ramallahs Stadtteil Beitunia 60 Familien betroffen, sagte ein Mitarbeiter der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Haq gegenüber junge Welt. Dies ist die Lage in allen Städten unter palästinensischer Kontrolle, der sogenannten A-Zone. Am Mittwoch morgen wurden die Luftschläge zwar ausgesetzt, »um zu sehen, ob Arafat gegen die Terroristen vorgeht«, so ein Armeesprecher gegenüber der Zeitung Haaretz. »Die nächste Stufe wird härter sein.« Es wird bereits über die vollständige Wiederbesetzung der Städte nachgedacht. Dschenin im Norden des Westjordanlandes soll das erste Ziel sein.

Israels Ministerpräsident Ariel Scharon verlangt vom palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat die Verhaftung von »Terroristen«. Diese Definition ist keineswegs nur auf diejenigen beschränkt, die mit ihren individuellen Terroranschlägen wahllos Zivilisten in Israel ermorden, sondern damit sind alle gemeint, deren Politik »dem Frieden schadet«. Die Palästinenser werfen aber Israel vor, den vor acht Jahren geschlossenen Friedensvertrag schrittweise ad absurdum geführt zu haben.

»Wir haben sieben Jahre lang friedlich mit Israel verhandelt«, sagte Marwan Barguti gegenüber junge Welt. »In diesen sieben Jahren haben sie die Zahl der jüdischen Siedler in den palästinensischen Gebieten verdoppelt. Damit haben natürlich auch deren Überfälle auf palästinensische Dörfer zugenommen. Die Landnahme geht weiter, große landwirtschaftliche Nutzflächen wurden zerstört.« Die israelische Besatzung hat sich seiner Ansicht nach stabilisiert, und die Aussichten auf eine palästinensische Unabhängigkeit sind geschrumpft. »Ich habe gleich zu Anfang der Intifada (im September 2000) gesagt, daß dieser Aufstand nicht nur ein paar Tage oder Wochen dauert«, so Barguti weiter. »Die Palästinenser haben die Nase voll. Jetzt kämpfen wir wieder.« Barguti ist der Generalsekretär der Fatah, der Partei Arafats, und wird von Israel als Kopf hinter den bewaffneten Angriffen auf jüdische Siedler im Westjordanland verantwortlich gemacht. Die Anschläge innerhalb Israels lehnt er aber ab. »Für mich geht es um die Befreiung der besetzten Gebiete und nicht des historischen Palästina.« Er kann sich »sehr gut vorstellen«, einmal friedlich mit den Israelis zusammenzuleben. »Aber eine Errungenschaft der Intifada ist, daß einige Siedler die besetzten Gebiete verlassen haben und die Besatzungspolitik wieder international beachtet wird.«

»Terroristen«-Festnahme

Haidar Abdel Schafi, unabhängiger Politiker und Direktor des Roten Halbmondes in Gaza, wird von palästinensischen Analysten als Vertreter einer »dritten Strömung« zwischen Autonomiebehörde und der islamischen Opposition bezeichnet. »Ich habe die Friedensverträge von Oslo schon immer abgelehnt«, so Abdel Schafi in der palästinensischen Tageszeitung Al-Quds, »und die Ereignisse geben mir recht«. Nicht nur diene der »Frieden« als Deckmantel für die Aufrechterhaltung der israelischen Besatzung, »unser Verbleib am Verhandlungstisch diente der internationalen Staatengemeinschaft auch als Ausrede zur Ignorierung der israelischen Verbrechen«. Der größte Fehler sei aber, daß mit der vertraglichen Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde die demokratische Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft verhindert wurde. »Aber ohne eine solche Entwicklung werden wir den derzeitigen Anforderungen nicht gewachsen sein. Demokratie bedeutet die Respektierung der Gesetze und Menschenrechte sowie ein effektiver Umgang mit öffentlichen Geldern.«

Um das umzusetzen bedarf es nach Ansicht Abdel Schafis eines Zusammenschlusses aller politischen Kräfte. »Die Palästinensische Autonomiebehörde hat es versäumt, die Intifada zu organisieren.« Deshalb herrsche ein Zustand zwischen Chaos und Unentschlossenheit »und die Opfer des Aufstandes könnten ganz umsonst gewesen sein«.

Israel hat nun auch einen Teil der palästinensischen Sicherheitskräfte auf die Liste der »Terrororganisationen« gesetzt und damit zur Liquidierung freigegeben. Marwan Barguti ist ebenfalls darunter. Die israelische Regierung verlangt von der palästinensischen Polizei ein entschlosseneres Vorgehen gegen die Aktivisten, bombardiert aber gleichzeitig ihre Einrichtungen und damit ihre Handlungsfähigkeit.

Arafat wird international einerseits für seine undemokratische Politik kritisiert. Gleichzeitig soll er politische Aktivisten massenweise verhaften. Zu diesem Zweck hat er am vergangenen Sonntag den Notstand ausgerufen. Alle »Organisationen und Gruppen, die sich den palästinensischen Zielen widersetzen, sind illegal« und werden verfolgt, so die Erklärung. In Begleitung von Fernsehteams wurden noch in der Nacht zum Montag über 100 Angehörige der religiös-politischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad von vermummten Polizisten festgenommen. Die beiden Gruppen hatten zuvor die Verantwortung für die Selbstmordanschläge vom Wochenende übernommen. Die Festnahmen sind sehr unbeliebt unter den Palästinensern. Auch Menschen, die die Bombenanschläge innerhalb Israels ablehnen, wenden sich gegen diese Maßnahmen ohne Gerichtsbeschluß entlang der politischen Gesinnung.

Ein Verbot der Hamas hätte fatale Folgen für die palästinensische Bevölkerung. Die bewaffnete Politik ist nämlich nur das kleinere Standbein der Organisation. Sie betreibt Krankenhäuser und Schulen, deren Besuch viel billiger ist als die »staatlichen« Einrichtungen. Daneben versorgt sie Hunderte von verarmten Familien mit Lebensmitteln. Am Donnerstag demonstrierten 3000 Palästinenser gegen den Hausarrest des Hamas-Gründers Scheich Achmad Jassin. Sie griffen die palästinensische Polizei an, die einen der Protestierer erschoß. Die Hamasführung hat ihre Mitglieder nun dazu aufgerufen, keine Waffen gegen die Polizei einzusetzen. Die drohende Gefahr eines Bürgerkrieges ist gebannt. Arafat wird sich aber weiterhin darum bemühen müssen, einen Ausgleich zwischen den israelischen Forderungen und der Realität in den besetzten Gebieten zu finden. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Verzweiflung führt zu Verzweiflungstaten. »Wie soll man sich in dieser unsicheren Situation überhaupt noch politisch engagieren«, fragt sich Adam Halaui. Der 26jährige fühlt sich der marxistisch-leninistischen PFLP zugehörig, der Volksfront für die Befreiung Palästinas. »Am Anfang der Intifada war ich noch wütend genug, um auf Demonstrationen gegen die israelischen Checkpoints zu gehen. Da gab es noch ein gemeinsames Ziel, nämlich den Abzug der israelischen Soldaten und Siedler aus den besetzten Gebieten. Aber jetzt unterwirft sich Arafat den Israelis und fällt uns in den Rücken. Was soll das dann alles noch?« Halaui war darüber erst verzweifelt, dann hat er sich frustriert aus der Politik zurückgezogen. »Ich kann es aber auch nachvollziehen, wenn diese Verzweiflung über die eigene Ohnmacht ins andere Extrem umschlägt und die Leute Verzweiflungstaten begehen.« Das komme auch auf die täglichen Erfahrungen der Menschen an. »Viele haben Freunde und Verwandte verloren, viele sind dauerhaft behindert, noch mehr haben keine Arbeit und nichts zu essen. Wie soll man so etwas denn untätig ertragen?«

Ohnehin sieht der überwiegende Teil der Bevölkerung die palästinensische Polizei als stellvertretenden Verteidiger ihrer Interessen gegenüber Israel. Das ist zwar nicht die Rolle, die ihr in den Verträgen mit Israel zugedacht ist, aber diese Vorstellung ermöglicht den Menschen zum ersten Mal seit Jahrzehnten, ein »normales« Leben zu führen: Familie, Arbeit, Freizeitgestaltung. In diesem Sinne werden auch die Guerillas und die Selbstmordattentäter als Vertreter eines legitimen Widerstandes gegen die israelische Besatzung gesehen, unter der alle leiden, aber gegen die nur noch wenige zu kämpfen bereit sind.

Die Polizei hat es nicht einfach, gegen die eigenen Bevölkerung vorzugehen, wenn die israelische Armee gleichzeitig politische Aktivisten liquidiert und 11jährige Kinder erschossen werden, die Steine auf Panzer werfen, wie zuletzt in Dschenin vor einer Woche. Die Liquidierung von Machmud Abu Hanud, ein Funktionär der Hamas, Mitte November hatte eine besondere Wirkung. Die Hamas hatte vor drei Monaten auf Druck der Autonomiebehörde hin Anschläge innerhalb Israels eingestellt. Das Ziel der Liquidierung Hanuds konnte damit nur die Störung dieser Übereinkunft sein. Die Rechnung ist aufgegangen. Am letzten Sonntag explodierte eine Hamas-Bombe in einem Bus in der Küstenstadt Haifa und tötete 15 Menschen.

Schon im Oktober haben sich 80 Polizeioffiziere im Gazastreifen geweigert, willkürlich palästinensische Militante festzusetzen. Die Bewohner der jeweiligen Wohnviertel drohten, diese Maßnahmen mit Gewalt zu verhindern. Sollte Israel weiterhin Polizeitstationen bombardieren, kann Arafat die Festnahmen immer weniger durchsetzen. Es ist nicht schwer, darin ein kalkuliertes Ziel der israelischen Angriffe zu sehen: Die Schwächung der Autonomiebehörde, den Ausbruch innerpalästinensischer Konflikte und dadurch die Verstärkung der Unsicherheit in den besetzten Gebieten.

Tod am Checkpoint

Dazu kommt die Ausweitung der kollektiven Bestrafung der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Zum ersten Mal seit Einführung der Abriegelungspolitik im März 1993 sind die palästinensischen Ortschaften voneinander total isoliert. Bisher war es auch in angespannten Zeiten noch möglich, die israelischen Checkpoints im Westjordanland zu Fuß zu überqueren. Jedenfalls für Frauen und Alte. Seit Montag ist das nicht mehr möglich. Nicht einmal Ausländer, die sonst relative Freiheiten genießen, sind von dieser Maßnahme ausgenommen, wenn sie keinen Diplomaten- oder Presseausweis besitzen.

Am Montag wollte eine Mutter aus einem Dorf bei Kalklilia im Westjordanland ihr acht Monate altes Baby wegen einer Lungenentzündung ins städtische Krankenhaus bringen. Die Soldaten ließen sie nicht durch, das Baby starb. Diese »kleinen« Dinge jenseits der Selbstmordanschläge und Luftangriffe sind es, die den Alltag der Menschen bestimmen und sofort die Runde machen. Vor allem die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin wird langsam kritisch.

Dabei ist die Funktion der Abriegelung für die israelischen Sicherheitsinteressen fraglich. Bereits die beiden Selbstmordattentäter von West-Jerusalem kamen aus Abu Dis, einem Dorf auf dem Ölberg unter israelischer Kontrolle. Die palästinensische Polizei darf sich dort gar nicht aufhalten und konnte demzufolge die Anschläge gar nicht verhindern. Am Mittwoch morgen sprengte sich ein weiterer Attentäter in Jerusalem in die Luft und verletzte fünf Israelis. Und das in Zeiten der totalen Abriegelung der besetzten Gebiete.

 
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