Siedlung als Waffe

Der Nahost-Konflikt stellt noch immer die soziale Frage

Von Michael Lüders, Frankfurter Rundschau, 15.4.2002

Folgt man dem Tenor der Medienberichterstattung, so ist die Verantwortung für den israelischen Feldzug gegen die Palästinenser schnell ausgemacht. Jassir Arafat ist der falsche Mann am falschen Ort. Den Wandel zum Präsidenten eines demokratischen Gemeinwesens, so die Stoßrichtung, habe er nie angestrebt. Die Korruption, der Despotismus und das politische Unvermögen seiner Autonomiebehörde sind Legende. Es passt ins Bild: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, umgeben von arabischen Diktaturen, die nur darauf warten, die Juden ins Meer zu treiben. Die Verehrung, die den Selbstmordattentätern in der arabischen Öffentlichkeit zuteil wird, scheint zu beweisen, was diese Leute wirklich denken. Israel sucht den Frieden, die Palästinenser setzen auf Gewalt.

Es ist hier zu Lande schwer vorstellbar, dass der schlichte wie richtige Satz des französischen Außenministers Hubert Védrine, die israelische Militäraktion in den besetzten Gebieten löse die Palästina-Frage nicht, von seinem deutschen Amtskollegen hätte ausgesprochen werden können. Deutsche Politiker stehen bei jeder Äußerung vor der heiklen Situation, sich zu ihrer besonderen historischen Verantwortung verhalten zu müssen. Die Denkverbote reichen weit, und so werden nahe liegende Fragen selten gestellt. Welches Ziel verfolgt die israelische Siedlungspolitik? Warum herrscht solche Schweigsamkeit gegenüber Ariel Scharon, dessen militärische Biografie, vor allem seine Verantwortung für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 in Beirut, ein Verfahren vor einem internationalen Gerichtshof rechtfertigen würde?

Kein politisches Projekt

Der israelische Historiker Tom Segev erklärte kürzlich in Le Monde auf die Frage, ob Scharon die Palästinenser in die Kapitulation treiben wolle, dieser verfüge über kein politisches Projekt. Sein Programm bestehe darin, repressiven Impulsen freien Lauf zu lassen. Die Terroristen, so Segev, werden Israel niemals besiegen, aber umgekehrt werde Israel niemals die palästinensische Nationalbewegung besiegen, ihren Kampf um einen eigenen Staat. "Die Besatzung ruft den Terror hervor, auf den mit Unterdrückung reagiert wird, die ihrerseits noch mehr Kandidaten für Selbstmordattentate schafft."

Der Terror ist längst dezentralisiert und politisch nicht mehr zu kontrollieren. Das stetige Mantra der israelischen Regierung, Arafat sei dessen alleiniger Urheber und Drahtzieher, meint allein seine Person. Aller politischen Unfähigkeit zum Trotz ist Arafat die Symbolfigur des palästinensischen Nationalismus. Seine Dämonisierung verfolgt das Ziel, diesen Nationalismus zu diskreditieren. Wer Palästina sagt, so die Devise, meint die Zerstörung Israels. Vor diesem Hintergrund versteht sich, warum die israelische Armee bei ihrer Offensive in der Westbank nicht in erster Linie Aktivisten von Hamas und Dschihad jagt, sondern die Zerstörung der politischen und sozialen Infrastruktur betreibt und damit alles, was einen werdenden Staat auszeichnet: die Regierungsgebäude der Autonomiebehörde, Radio und Fernsehen, Schulen und Einrichtungen des Gesundheitswesens. Ganz zu schweigen von Brutalität der Soldaten gegenüber den Palästinensern.

Darauf zu verweisen heißt nicht, den Terror der palästinensischen Seite zu rechtfertigen. Über das Leidensmonopol verfügt keine Seite. Was sie unterscheidet, ist die Ausübung von Macht. Im Verlauf des 1993 in Oslo eingeleiteten Friedensprozesses sind sich Israelis und Palästinenser nie als gleichberechtigte Partner begegnet. Ihr Verhältnis war immer geprägt von der militärischen und politischen Macht Israels. Arafat hatte nie eine andere Wahl als zu akzeptieren, was die Israelis ihm zu geben bereit waren.

Dieses Ungleichgewicht erklärt, warum der Friedensprozess im Sand verlief. Denn Oslo und die Folgeabkommen orientierten sich überwiegend an den Vorstellungen Israels. Deswegen wurden Grundsatzfragen - die Zukunft Ost-Jerusalems, die Frage der Grenzen sowie der jüdischen Siedlungen oder die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge - immer wieder verschoben, bis zu den "Endstatus-Verhandlungen". Diese sind im Juli 2000 in Camp David gescheitert, weil Israel in den sieben Jahren der Interimslösungen seit Oslo gezeigt hat, dass es zwar wortreich den Frieden beschwört, gleichzeitig aber die Kontrolle über alle Lebensbereiche der Palästinenser beibehalten hat. So hat Israel allein in den zwei Jahren vor Camp David mehr palästinensisches Land in der Westbank für Siedlungszwecke enteignet als vertragsgemäß durch Truppenabzug geräumt.

Gerade die jüdische Besiedlung der Westbank und des Gaza-Streifens aber schafft Fakten, die durch keinen Friedensvertrag mehr aufzuheben sind. Wo soll eigentlich noch ein palästinensischer Staat entstehen? Nach Maßgabe des Völkerrechts hat Israel keinerlei Anspruch auf die 1967 besetzten Gebiete, auch nicht auf Ost-Jerusalem. Doch das Völkerrecht hat bislang noch keine israelische Regierung daran gehindert, den Siedlungsbau voranzutreiben. Ein Drittel der heutigen Siedler ist erst nach 1993 in die besetzten Gebiete gezogen, gefördert durch staatliche Prämien und Steuerbegünstigungen. Die rund 300 000 Siedler in der Westbank stellen nur 17 Prozent der dortigen Bevölkerung, im Gaza-Streifen sind es vier Prozent (5000 Siedler). Dennoch kontrollieren sie 60 Prozent des in der Regel entschädigungslos enteigneten Landes in der Westbank; im Gaza-Streifen sind es knapp 40 Prozent. Gleichzeitig verbrauchen die Siedlungen 80 bis 95 Prozent der verfügbaren Wasserreserven. Die palästinensischen Tagelöhner, die in israelischen Siedlungen die Häuser bauen, sind häufig ehemalige Bauern, die wegen Wassermangels ihre Betriebe aufgeben mussten oder durch Enteignungen ihre Ländereien verloren.

Die Siedlungspolitik verfolgt einzig das Ziel, den israelischen Anspruch auf die besetzten Gebiete durch eine eigene Infrastruktur unwiderruflich zu festigen. Gebaut wurden daher nicht nur Siedlungen (etwa 250), es entstanden auch Industriegebiete und militärische Einrichtungen. Sie sind durch ein engmaschiges, eigens geschaffenes Straßennetz verbunden, das die palästinensischen Gebiete in Enklaven unterteilt. Orte wie Bethlehem oder Ramallah können kaum expandieren oder Stadtplanung betreiben, weil sie von Siedlungen und Siedlerstraßen umgeben sind. Gleichzeitig wurde die Bewegungsfreiheit der Palästinenser eingeschränkt. Nach Ost-Jerusalem, das wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum der Westbank, dürfen sie nur mit einer Sondergenehmigung einreisen. Dagegen ist es für jüdische Siedler kein Problem, dort zu leben. Rund 150 000 leben in Ost-Jerusalem oder an dessen östlichem Stadtrand. Palästinenser aus den besetzten Gebieten erhalten keine Zuzugsgenehmigung, Palästinenser aus Ost-Jerusalem keine Baugenehmigungen. Das erklärte Ziel Israels ist es, den Anteil der jüdischen Bevölkerung kontinuierlich zu erhöhen. Mit Erfolg, denn die Palästinenser in Ost-Jerusalem sind seit 1993 in ihrer eigenen Stadt die Minderheit.

Da der Friedensprozess nur in eine Richtung verlief, war es eine Frage der Zeit, bis sich die Frustration der Palästinenser nach dem Scheitern von Camp David in neuer Gewalt entladen würde. Die Entrechtung und Enteignung der Palästinenser wird begleitet von Perspektivlosigkeit, Armut und der tagtäglichen Demütigung durch israelische Soldaten. Auslöser der gegenwärtigen Intifada war bekanntlich der Besuch Scharons auf dem Tempelberg in Jerusalem. Damit nahm der Konflikt kriegsähnliche Dimensionen an. Während die israelische Armee zunächst mit Panzern, Kampfhubschraubern und Raketen vorging und palästinensische Städte belagerte, setzten die Palästinenser auf gezielte Kampfhandlungen und Selbstmordattentate.

Auf diesen Zusammenhang hinzuweisen heißt nicht, den palästinensischen Terror zu billigen oder zu rechtfertigen. Dieser Terror ist nicht nur menschenverachtend, er ist auch politisch ein Desaster, weil er die israelische Friedensbewegung in die Bedeutungslosigkeit treibt. Doch für jeden, der gewillt ist zu sehen, gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Okkupation und Terror. Siedlungspolitik und Frieden mit den Palästinensern schließen einander aus. Solange die israelische Gesellschaft die besetzten Gebiete mehrheitlich als biblisch verheißenes Land betrachtet, solange bleibt der Friedensprozess ein bloßes Manöver, um Zeit zu gewinnen und weitere Fakten zu schaffen.

Sprengsatz Siedlungspolitik

Hat aber nicht der damalige Premier Ehud Barak in Camp David den Palästinensern 96 Prozent der besetzten Gebiete angeboten? Die amerikanischen Vermittler sahen in Arafats Weigerung, diesem historischen Kompromiss zuzustimmen, den Hauptgrund für das Scheitern von Camp David. Doch auch zu Baraks Regierungszeit ist die Siedlungspolitik nicht eingeschränkt worden. Überdies war der Siedlungsring um Ost-Jerusalem in jenen 96 Prozent - nach anderen Angaben 97 Prozent - nicht enthalten, was die Frage aufwirft, wer hier wie gerechnet hat. Zu überprüfen sind die Zahlenangaben ohnehin nicht, weil Baraks Angebot nie schriftlich festgehalten wurde. Beiden Seiten sind in Camp David Verhandlungsfehler vorzuwerfen, doch der Sprengsatz, an dem der Friedensprozess von Oslo scheitern musste, war die Siedlungspolitik. Selbst wenn die palästinensische Führung nicht durch Vetternwirtschaft, fehlende Visionen und schieres Unvermögen gelähmt wäre, bliebe dieser Bodensatz bestehen.

Israel sucht den Frieden, die Palästinenser antworten mit Terror - diese Glaubensgewissheit deutscher Politiker greift zu kurz. Die aus Auschwitz geborene Solidarität mit Israel, die nicht allein ein moralisches Gebot, sondern eine historische Notwendigkeit ist und bleiben wird, rechtfertigt nicht die deutsche Kritiklosigkeit gegenüber einer Regierung, deren Politik langfristig die Existenz Israels gefährdet. Jossi Beilin, einer der israelischen Verhandlungsführer in Oslo, hat einmal erklärt, Israel werde entweder Teil einer Friedenslösung im Nahen Osten sein oder werde auf Dauer nicht bestehen.

Israel ist dabei, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die emotionale Empörung über das israelische Vorgehen in den besetzten Gebieten und die Tatenlosigkeit westlicher Regierungen hat beängstigende Ausmaße erreicht, von Marokko bis Indonesien. Man mag zu dieser Empörung stehen, wie man will, aber sie ist Realität. Und sie wird sich eines Tages Bahn brechen. Vermutlich mit noch mehr Gewalt. Es gibt keine Alternative zu einem vollständigen Rückzug Israels aus den 1967 eroberten arabischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalems. Dieses Ziel gilt es zu erreichen, auch mit Hilfe einer aktiven europäischen Nahostpolitik.