Sonderseite zu den Angriffen auf Gaza

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Zur Situation im Gaza-Streifen

Stellungnahme von Richard Falk, Uno-Sonderberichterstatter für die seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiete

gehalten an der Sondersitzung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf am 9.1.09
Quelle: United Nations Information System on the Question of Palestine 

Übersetzung: Zeit-Fragen, 18. Januar 2009

zf. Der Krieg Israels gegen den Gaza-Streifen geht nun bereits in die dritte Woche. Am 9. Januar beschäftigte sich der Menschenrechtsrat in Genf mit dem Krieg in Gaza. Besonders die Rede des Uno-Sonderbeauftragten für Israel und die Besetzten Palästinensischen Gebiete, Richard Falk, prangerte, unterstützt von der Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, den Völkerrechtsbruch Israels an, der nicht erst mit dem Krieg gegen Gaza seinen Anfang genommen hat.
    Israel ist Mitglied der Uno und damit den Menschenrechten, dem Völkerrecht und dem Humanitären Völkerrecht verpflichtet. Es hat sich wie jedes andere Land an das Recht zu halten, und jeglicher Verstoss dagegen müss­te geahndet werden. Der Krieg gegen die Palästinenser stellt einen eklatanten Bruch des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts dar. Die Stellungnahme von Richard Falk, der am 9. Januar persönlich nicht anwesend sein konnte und von seiner Assistentin vertreten wurde, zeigt deutlich auf, in welcher krassen Art die Grundlagen der Uno und damit eines friedlichen Zusammenlebens der Völker mit Füssen getreten wurden. Neben der Stellungnahme Richard Falks lässt «Zeit-Fragen» verschiedene Autoren zu Wort kommen, die auf die verheerende Lage im Gaza-Streifen und auf die möglichen Kriegsverbrechen in Gaza aufmerksam machen.

Richard Falk:
1. Diese Stellungnahme konzentriert sich auf die Auswirkungen, die der anhaltende, am 27. Dezember 2008 begonnene militärische Feldzug Israels in Gaza auf die humanitäre Situation hat, mit der 1,5 Millionen Palästinenser konfrontiert sind, die im Gaza-Streifen eingeschlossen sind. In Übereinstimmung mit der Aufgabe des Mandates [des Sonderberichterstatters] beschränken sich die Kommentare auf jene Punkte, die in Zusammenhang mit Israels Verpflichtungen als Besatzungsmacht zur Einhaltung des Humanitären Völkerrechtes stehen. Diese ergeben sich hauptsächlich aus den rechtlichen Verpflichtungen, wie sie in der IV. Genfer Konvention von 1949 festgelegt sind, welche Israels Pflichten als Besatzungsmacht recht ausführlich darlegt. Die grundlegenden Verpflichtungen des Humanitären Völkerrechtes werden auch als verbindliche rechtliche Pflichten betrachtet, die im Völkergewohnheitsrecht verankert sind. Diese Stellungnahme berührt Fragen der Internationalen Menschenrechts-Gesetzgebung (International Human Rights Law IHR), aber auch die Implikationen schwerer und anhaltender Verletzungen sowohl des Humanitären Völkerrechts als auch der Menschenrechts-Gesetzgebung, die Fragen des Internationalen Strafrechts (International Criminal Law ICL) aufwerfen. Ebenso erforderlich ist eine Einschätzung der zugrundeliegenden Sicherheitsansprüche Israels, wonach das militärische Eindringen nach Gaza eine «Verteidigungs»operation in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen war und gemäss dem keine «humanitäre Krise» existierte, welche den Umfang und die Art der eingesetzten militärischen Gewalt «exzessiv» und «unverhältnismässig» machte.

2. Obwohl Israel die Behauptung aufstellte, es sei auf Grund des Abzuges seiner Streitkräfte aus Gaza keine Besatzungsmacht mehr, ist man sich in weiten Kreisen internationaler Rechtsexperten einig, dass die fortdauernde israelische Kontrolle der Grenzen, des Luftraumes und der Hoheitsgewässer von einer Art ist, dass Israel den rechtlichen Status einer Besatzungsmacht behält.

3. Die Qualität dieses Berichtes wird zweifellos dadurch geschmälert, dass eigene Beobachtungen der zuvor bestehenden humanitären Situation in Gaza fehlen; sie wären das Ziel einer Mission gewesen, die der Sonderberichterstatter unternahm, um Informationen zu sammeln, die zur Erstellung eines Berichtes für die auf März 2009 angesetzte reguläre Sitzung des Menschenrechtsrates verwendet werden sollten. Die Mission schlug fehl, da dem Sonderberichterstatter am 14. Dezember die Einreise nach Israel verweigert, er für rund 15 Stunden in einer Arrestzelle am Flughafen Ben Gurion festgehalten und am nächsten Tag ausgewiesen wurde. Eine derartige Behandlung eines Uno-Experten bei der Erfüllung seines Auftrages wirft für die Organisation als Ganze ernsthafte Fragen auf, die Bezug haben zu den Pflichten eines Mitgliedstaates zu kooperieren und diejenigen, welche die Arbeit der Uno ausführen, mit entsprechender Würde zu behandeln. Es ist zu hoffen, dass die Regierung Israels davon überzeugt werden kann, ihre Politik des Ausschlusses zu überdenken, welche die Arbeit für dieses Mandat behindert hat. Diese Sorge über den Ausschluss wurde sowohl während der Periode, die den israelischen Angriffen auf Gaza vorausging als auch während der Militäroperation noch dadurch verstärkt, dass ausländischen Journalisten der Zugang verweigert wurde, eine Politik, die an israelischen Gerichten erfolgreich angefochten wurde, bis heute allerdings ohne greifbare Resultate. Wie die «New York Times» vermerkte, verweigert Israel Medienvertretern, Einblick in die humanitären Auswirkungen seiner Militäroperationen in Gaza zu nehmen; gleichzeitig unterstützt es Journalisten, die schädlichen Auswirkungen der Raketenangriffe auf Zivilisten in Israel anzuschauen. Selbst die Anfragen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Schauplätze vermuteter Verletzungen des Humanitären Völkerrechts zu untersuchen, sind bis heute abgewiesen worden, zum Beispiel der Besuch am Ort der Militäraktion in der Stadt Zaytoun, bei welcher Berichten zufolge vorsätzlich 60 Mitglieder der Familie Samouni getötet wurden, darunter mehrere Kinder. Die Frage des Zuganges ist entscheidend für die Arbeit der Sonderberichterstatter und verdient die Aufmerksamkeit des Menschenrechtsrates und der Vereinten Nationen ganz allgemein.

4. Grund dieser Sondersitzung ist das Bestehen einer humanitären Notlage in Gaza – eine Reihe von Bedingungen, die von der israelischen Aussenministerin, Tzipi Livni, an diversen öffentlichen Sitzungen in Frage gestellt wurden. Frau Livni argumentiert, eine «militärische Waffenruhe» sei nicht notwendig, da keine humanitäre Krise bestehe. Sie macht geltend, dass Israel für Lieferungen von Nahrungsmitteln und Medikamenten den Grenzübertritt erlaubt habe, aber wie die Uno-Hilfs- und Entwicklungsorganisation UNRWA und andere UN-Beamte festgestellt haben, können diese Lieferungen den Hunger und ernährungsbedingte Schwierigkeiten erst lindern, wenn eine Verteilung möglich wird; letzteres ist angesichts der in den meisten Teilen des Gaza-Streifens herrschenden Kriegsbedingungen nicht der Fall. Es bleibt abzuwarten, in welch geringem Umfang dieser fatale Umstand durch die dreistündige Feuerpause, die Israel am 7. Januar angekündigt hat, beeinflusst werden kann. Zusätzlich zur aktuellen Krise sollten einige zugrundeliegende Aspekte erwähnt werden: Ungefähr 75% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu Trinkwasser; sie haben auch keinen Strom. Diese Bedingungen bedeuten eine zusätzliche Erschwernis der Lebensverhältnisse der Bevölkerung von Gaza, die sich aus der langanhaltenden Blockade ergeben haben; letztere hat die physische und geistige Gesundheit und den Ernährungszustand der ganzen Bevölkerung von Gaza so verschlimmert, dass rund 45% der Kinder unter akuter Blutarmut leiden. Durch die Beeinträchtigungen bei der Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material und die Schliessungen der Grenze war es für viele Bürger von Gaza unmöglich, in lebensbedrohlichen Situationen behandelt zu werden oder entsprechende Behandlungen weiterzuführen. Man ist zur zuverlässigen Schlussfolgerung gekommen, dass bis zu 80% der Bevölkerung von Gaza  unterhalb der Armutsgrenze leben, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt auf nahezu 75% gestiegen ist und dass das Gesundheitssystem unter den Auswirkungen der Blockade am Zusammenbrechen ist. Auf Grund dieser Rahmenbedingungen sind unparteiische internationale Beobachter  und Behördenmitglieder zur unbestrittenen Überzeugung gelangt, dass die Bevölkerung von Gaza bereits vor dem 27. Dezember unter einer humanitären Krise grossen Ausmasses gelitten hat.

5. Die Gewaltanwendung durch eine Besatzungsmacht gegen die Bedrohungen der Sicherheit, die von einer besetzten Bevölkerung ausgehen, ist innerhalb der Beschränkungen, die das Völkerrecht festlegt, erlaubt. Israel macht geltend, sein jetziger militärischer Feldzug sei angemessen und notwendig auf Grund des Umfangs und der Schwere der Raketenangriffe, die gegen die israelische Zivilbevölkerung in den Städten Sderot und Ash­dod im Süden Israels gerichtet sind und der Hamas zugeschrieben werden. Um diese Behauptung zu beurteilen, müssten einige Fragen geklärt werden, die bis heute nicht ausreichend diskutiert wurden – weder im Rahmen der Diplomatie noch in den Medien.

6. Es soll unmissverständlich darauf hingewiesen werden, dass es keine rechtliche (oder moralische) Begründung gibt, Raketen auf zivile Ziele abzuschiessen und dass ein solches Verhalten eine Verletzung der Internationalen Menschenrechtsgesetzgebung IHR bedeutet, die mit dem Recht auf Leben einhergeht, genauso wie es ein Kriegsverbrechen darstellt. Zugleich muss die Art des Verstosses im Kontext seines Zustandekommens bewertet werden; unter Beachtung der Bedeutung des temporären Waffenstillstandes, der seit Juni 2008 eingehalten wurde, bis er am 4. November 2008 durch einen tödlichen israelischen Angriff auf militante Palästinenser in Gaza ernsthaft unterbrochen wurde. Im ganzen Jahr vor dem 27. Dezember resultierte kein einziger israelischer Todesfall durch Raketen, die aus Gaza gefeuert wurden. Überdies wurde seit Juni 2008 von beiden Seiten ein Waffenstillstand eingehalten, es fanden einige Verletzungen statt, ohne jedoch am Willen beider Seiten, den Waffenstillstand aufrechtzuerhalten, etwas zu ändern. Man erwartete, dass Israel während dieser Zeit die Blockade aufheben oder zumindest erleichtern würde, die der ganzen Bevölkerung Gazas schwere Entbehrungen auferlegt hatte, insbesondere durch Einschränkungen in der Versorgung mit Nahrung, Medikamenten, medizinischen Geräten und Benzin. ­Israel tat das nicht. Führende Uno-Beamte vor Ort haben wiederholt auf das akute Leid, das damit dem zivilen Gaza zugefügt wurde, hingewiesen, so auch der  Generalbevollmächtigte der Uno-Hilfs- und Entwicklungsorganisation (UNRWA), die am unmittelbarsten mit der beängstigenden Aufgabe beschäftigt ist, die humanitären Bedürfnisse der Bewohner Gazas abzudecken.

7. Die seit 18 Monaten anhaltende Blockade war rechtswidrig, eine massive Form der kollektiven Bestrafung und als solche ein Verstoss gegen Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention, ebenso ein Verstoss gegen Artikel 55, welcher verlangt, dass die Besatzungsmacht die Nahrungsmittelversorgung der Zivilbevölkerung und ihre medizinische Versorgung sicherstellt. Eine solche Blockade ändert den unrechtmässigen Charakter von Raketenangriffen nicht, aber sie weist auf zwei wichtige Schlussfolgerungen aus rechtlicher Sicht hin: Zum einen, dass das Ausmass des zivilen Leids, welches durch Israels ungesetzliches Handeln entstand, viel grösser war als das, welches aus dem ungesetzlichen Handeln der Palästinenser entstand; zum andern, dass jeglicher Versuch, einen tragfähigen Waffenstillstand auszuhandeln, sicherstellen sollte, dass sowohl Israel wie die Hamas das Humanitäre Völkerrecht respektieren. Ganz konkret bedeutet dies, dass Behinderungen beim Einlass von Gütern, die zur Aufrechterhaltung des zivilen Lebens benötigt werden, beendet werden müssen und nicht wiederaufgenommen werden können als Vergeltungsmassnahme, wenn in der Zukunft irgendein Raketenangriff stattfindet. In gleicher Weise ergibt sich für den Fall, dass Israel zukünftig solche Beschränkungen verhängen sollte, keinerlei Rechtsschutz für die Wiederaufnahme von Raketenangriffen oder andere Formen palästinensischer Gewalt, die sich gegen israelische Zivilisten richtet. Es bestehen einige Schwierigkeiten, die Verantwortung für alle Raketenangriffe der Hamas zuzuschreiben. In Gaza operieren unabhängige Milizen, und sogar vor der Hamas waren regierende Behörden trotz grösster Anstrengungen nicht in der Lage, alle Raketenabschüsse zu verhindern.

8. Der israelische Militäreinsatz wurde durch die israelischen Führer auch als eine «zwangsläufige» und «unvermeidbare» Reaktion auf das Andauern der Raketenangriffe gerechtfertigt. Wieder ist es auch hier von Bedeutung, das tatsächliche Umfeld der israelischen Rechtfertigungen zu überprüfen, die mit der Angemessenheit einer solchen Aktion und ihrem defensiven Charakter zu tun haben. Die meisten Darstellungen des befristeten Waffenstillstands weisen darauf hin, dass es ein massiver israelischer Einsatz tödlicher Gewalt am 4. November 2008 war, der den Waffenstillstand de facto beendet hat, was zu einem unmittelbaren Ansteigen der Häufigkeit des Raketenbeschusses aus Gaza führte. Relevant ist auch, dass die Hamas wiederholt angeboten hat, den Waffenstillstand zu verlängern, sogar bis zu 10 Jahren, vorausgesetzt, dass Israel die Blockade aufheben würde. Diese diplomatischen Möglichkeiten wurden, soweit das beurteilt werden kann, von Israel nicht geprüft, obwohl dies durch den umstrittenen legalen Status der Hamas als De-facto-Vertretung der Bevölkerung des Gaza-Streifens zugegebenermassen erschwert war. Dies ist von juristischer Relevanz, denn ein Grundprinzip der Uno-Charta ist, dass der Rückgriff auf Gewalt nur als letzter Ausweg möglich ist, was Israel verpflichtet, in gutem Glauben auf gewaltlose Mittel zur Beendigung der Raketenangriffe zu bauen.

9. Aus völkerrechtlicher Sicht ist es weiter von Bedeutung, das Ausmass zu bestimmen, in welchem das Angewiesensein auf Gewalt der Provokation gegenüber verhältnismässig und für die Wahrung der Sicherheit notwendig ist. Auch hier scheinen die israelischen Argumente nicht überzeugend. Wie bereits erwähnt, haben die Raketenangriffe, obwohl gesetzeswidrig und potentiell gefährlich, wenig Schaden und keinen Verlust von Menschenleben verursacht. Einen grossen Militäreinsatz gegen eine eigentlich wehrlose Gesellschaft zu initiieren, die bereits von der Blockade ernsthaft geschwächt war, akzentuiert das Missverhältnis des Angewiesenseins auf moderne Waffen in Kampfsituationen, in denen die militärische Überlegenheit weitgehend unbestritten war. Es scheint bezeichnend, dass die palästinensischen Opfer von qualifizierten Beobachtern zurzeit auf 640 Tote und etwa 2800 Verwundete geschätzt werden, darunter viele kritische Fälle, wobei die zivilen Opfer auf etwa 25% veranschlagt werden. Demgegenüber sind gemäss letzten Berichten vier israelische Soldaten gestorben, offensichtlich alle auf Grund von «friendly fire», d.h. durch fehlgeleitetes israelisches Feuer. Die Einseitigkeit der Opferzahlen ist ein Mass für das Missverhältnis. Ein weiteres ist das Ausmass der Verwüstung und die Grössenordnung der Angriffe. Es ist offensichtlich, dass die Zerstörung der Polizeieinrichtungen und zahlreicher öffentlicher Gebäude in überfüllten städtischen Gebieten einen exzessiven Einsatz von Gewalt darstellt, selbst wenn man die israelischen Behauptungen für bare Münze nimmt. Ebenso diskreditierend wie das Abstützen auf die unverhältnismässige Anwendung von Gewalt ist das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen der behaupteten Bedrohung durch Raketen aus Gaza und den Zielen der israelischen Angriffe. Dies gibt den Vorwürfen zusätzliches Gewicht, wonach der israelische Einsatz von Gewalt eine Form von «Aggression» darstellt, die durch das Völkerrecht verboten ist und die hinsichtlich der Kriterien «Verhältnismässigkeit» und «Notwendigkeit» mit Bestimmtheit unverhältnismässig ist.

10. Zudem erhoben qualifizierte Beobachter eine Vielzahl von Anschuldigungen, wonach die Israeli auf rechtlich inakzeptable Ziele ihrer Angriffe und auf die Anwendung rechtlich anrüchiger Waffen setzten, die das Verbot des Völkergewohnheitsrechtes von Waffen und Taktiken, die «grausam» sind oder «unnötiges Leiden» hervorrufen, verletzen. Unter den Zielen, deren Beschuss gemäss Humanitärem Völkerrecht als rechtswidrig gilt, finden sich: die islamische Universität, Schulen, Moscheen, medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal (einschliesslich Ambulanzen). Unter den Waffen, die gemäss Völkerrecht rechtlich fragwürdig sind, finden sich: Phosphorgas in Granaten und Raketen, welches das Fleisch bis auf die Knochen niederbrennt; Dense Inert Metal Explosives (sog. DIME-Waffen), die ihre Opfer in Stücke schneiden und bei den Überlebenden das Risiko von Krebserkrankungen erhöhen; abgereichertes Uran, verbunden mit tief eindringenden sogenannten «Bunker buster»-Bomben, die gegen die Tunnel im Gaza-Streifen eingesetzt werden. Diese verursachen in den nächsten Jahrhunderten möglicherweise Strahlenkrankheiten bei jedem, der ihnen ausgesetzt wird.

11. Dem Ausmass «unnötigen Leidens», das mit dem israelischen Einsatz verbunden ist, haftet eine Besonderheit an, der keine Beachtung geschenkt wurde. In vielen gegenwärtigen Kriegssituationen sucht eine grosse Anzahl von Zivilisten dem Leid durch Flucht vor der unmittelbaren Gefahr zu entkommen und wird dadurch zu «intern Vertriebenen» oder «Flüchtlingen». Mit seiner strengen Kontrolle der Ausreisemöglichkeiten hat Israel aber der zivilen Bevölkerung des Gaza-Streifens direkt oder indirekt die Möglichkeit verweigert, «Flüchtlinge» zu werden – was nie eine Möglichkeit echter Wahl ist, sondern immer ein Ausdruck der Verzweiflung. Diese israelische Verweigerung macht glaubwürdiger, dass die Bevölkerung des Gaza-Streifens im Grunde genommen Gefangene israelischer Besatzungspolitik sind. Aus der Perspektive des Völkerrechts bedeutet diese Aufkündigung der Möglichkeit für die Bewohner des Gaza-Streifens zu flüchten, eine schwerwiegende Zuspitzung der Gefahren, denen eine Zivilbevölkerung ausgesetzt ist, und unterstreicht die Schwere der humanitären Krise, die im Gaza-Streifen seit dem 27. Dezember herrscht. Seit dem Militäreinsatz hat sich diese Situation dramatisch verschlechtert. In einem Kommentar eines Sprechers des Roten Kreuzes in Gaza Stadt kommt die allgemeine Auffassung der Situation zum Ausdruck: «Das Ausmass der (militärischen) Operationen und das Ausmass des Elends und der Not am Boden ist einfach erdrückend …

12. Aus Sicht des Mandats für die Besetzten Palästinensischen Gebiete würden die folgenden Empfehlungen die Aufmerksamkeit dieser Sondersitzung verdienen:
1.    Die Forderung nach Wiederherstellung des Zugangs des Sonderberichterstatters als notwendigen Bestandteils der Uno-Überwachungsfunktion;
2.    das Beantragen von Initiativen der Generalversammlung, welche Vorwürfe von Kriegsverbrechen untersuchen sollen;
3.    das Vorschlagen eines langfristigen Waffenstillstandes auf der Grundlage einer Beendigung des Raketenbeschusses von Gaza und unbeschränkter Aufhebung der Blockade;
4.    das Einholen eines Gutachtens beim Internationalen Gerichtshof zur Beurteilung des rechtlichen Status der israelischen Kontrolle in Gaza nach dem israelischen Rückzug von 2005.
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«Verletzungen des humanitären Völkerrechtes können Kriegsverbrechen sein»

von Navanethem Pillay, Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte*

[…] Die Situation ist unerträglich. Die Waffenruhe, welche der Uno-Sicherheitsrat forderte, muss sofort umgesetzt werden. Die Gewalt muss aufhören.
    Lassen sie mich unmissverständlich hervorheben, dass die internationale Menschenrechts-Gesetzgebung überall und immer gilt. Insbesondere soll das Recht auf Leben selbst im Verlaufe von Feindseligkeiten geschützt werden. Auch Kriegsteilnehmer müssen das Völkerrecht einhalten, das die Unantastbarkeit der Nicht-Kombattanten hochhält. […] Sowohl unter der internationalen Menschenrechts-Gesetzgebung als auch unter dem Humanitären Völkerrecht auferlegt die tatsächliche Kontrolle, die Israel über den Gaza-Streifen ausübt, Israel ausserdem die Verantwortung für das Wohlergehen der dortigen Zivilbevölkerung.
    Ich betonte, dass Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention Kollektivstrafen oder kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung verbietet. Ebenso verboten sind alle Einschüchterungs- oder Terrormassnahmen.
    Ausserdem möchte ich betonen, dass die drei Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, nämlich Verhältnismässigkeit, Unterscheidung und Vorsicht im Rahmen dieses Konflikts voll zur Anwendung kommen müssen, wie sie das in jeder anderen Kriegssituation tun. Das erste Prinzip verbietet Angriffe, die zivile Verluste an Menschenleben oder verletzte Zivilisten erwarten lassen, die im Vergleich zu den erwarteten militärischen Vorteilen unverhältnismässig sind. Das zweite Prinzip auferlegt den Kriegführenden die Verpflichtung, zwischen Zivilisten und Kombattanten und zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Angriffe dürfen sich nur gegen Kombattanten und legitime militärische Ziele richten. Die letzte Norm verpflichtet Konfliktparteien alle möglichen Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen um zufällige Verluste an Menschenleben, unter der Zivilbevölkerung, verwundete Zivilisten oder Schaden an zivilen Objekten zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. […]
    Ich schliesse mich dem Bedauern des Generalsekretärs über die völlig inakzeptablen Angriffe auf eindeutig gekennzeichnete Uno-Einrichtungen an, in denen Zivilisten Schutz suchten. Eine Vielzahl, darunter Kinder, wurden bei diesen Angriffen getötet oder verwundet. Wie der Generalsekretär feststellte, waren die Positionen aller Uno-Einrichtungen den israelischen Behörden mitgeteilt worden. Trotz dieses Wissens, missachtete Israel das Schutzbegehren der Uno. Die gestrigen Todesfälle und Verletzten unter den Uno-Mitarbeitern führte zur Entscheidung der Uno, ihre Hilfsoperationen im Gaza-Streifen auszusetzen. Wenn internationale Hilfskräfte gezwungen werden, ihre Dienste zurückzuziehen, um ihre Mitarbeiter zu schützen, erhöht das zweifellos die Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung. Ich möchte bei dieser Gelegenheit die aussergewöhnliche Arbeit würdigen, die Uno-Hilfskräfte und andere Kollegen bisher unter extrem schwierigen und gefährlichen Umständen verrichteten. […]
    Der Konflikt hat den Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten verschärft. Ungenügende medizinische Einrichtungen sowie das Unvermögen der belagerten Ärzte und des übrigen medizinischen Personals, die Opfer zu erreichen oder ausreichend zu versorgen, verschlimmern eine extrem schreckliche Situation. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat Israel beschuldigt, einerseits seinen Verpflichtungen, verwundeten Zivilisten an einem bestimmten Ort in Gaza Stadt zu helfen, nicht nachzukommen und andererseits das IKRK und den Palästinensischen Roten Halbmond daran zu hindern, den Verwundeten Hilfe zu leisten. Ausserdem hat die WHO berichtet, dass mehrere Sanitäter beim Versuch, ihre Pflichten zu erfüllen, getötet worden sind. […]
    Die Haftung für Verletzungen des Völkerrechts muss sichergestellt werden. In einem ersten Schritt müssen glaubwürdige, unabhängige und transparente Untersuchungen durchgeführt werden, um Verstösse zu ermitteln und Verantwortlichkeiten festzustellen. Genauso wichtig ist es, das Recht der Opfer auf Entschädigung einzuhalten. Ich erinnere diesen Rat daran, dass Verletzungen des Humanitären Völkerrechtes Kriegsverbrechen sein können, für die individuelle strafrechtliche Verantwortung angerufen werden kann.

*    Auszüge aus der Stellungnahme von Navanethem Pillay, gehalten an der Sondersitzung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf am 9.1.09

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Aus dem Humanitären Völkerrecht

Art. 51 Schutz der Zivilbevölkerung

1.    Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen geniessen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren. Um diesem Schutz Wirksamkeit zu verleihen, sind neben den sonstigen Regeln des anwendbaren Völkerrechts folgende Vorschriften unter allen Umständen zu beachten. […]
4.    Unterschiedslose Angriffe sind verboten. […]
5.    Unter anderem sind folgende Angriffsarten als unterschiedslos anzusehen:
a)    ein Angriff durch Bombardierung – gleichviel mit welchen Methoden oder Mitteln – bei dem mehrere deutlich voneinander getrennte militärische Einzelziele in einer Stadt, einem Dorf oder einem sonstigen Gebiet, in dem Zivilpersonen oder zivile Objekte ähnlich stark konzentriert sind, wie ein einziges militärisches Ziel behandelt werden, und
b)    ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte

Verbot der Verweigerung lebensnotwendiger Güter

Art. 54 Schutz der für die Zivilbevölkerung lebensnotwendigen Objekte
1.    Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegführung ist verboten.
2.    Es ist verboten, für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte wie Nahrungsmittel, zur Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzte landwirtschaftliche Gebiete, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen, um sie wegen ihrer Bedeutung für den Lebensunterhalt der Zivilbevölkerung oder der gegnerischen Partei vorzuenthalten, gleichviel ob Zivilpersonen ausgehungert oder zum Fortziehen veranlasst werden sollen oder ob andere Gründe massgebend sind.

I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte

Verbot der Kollektivstrafe

Art. 4 Grundlegende Garantien
2.    Unbeschadet der allgemeinen Gültigkeit der vorstehenden Bestimmungen sind und bleiben in Bezug auf die in Absatz 1 genannten Personen jederzeit und überall verboten:
b)    Kollektivstrafen

II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte