[ Konferenz in Berlin am 18. 11.2006]    [Veranstaltung mit Jeff Halper]    [home]

 

Ein Leben wie im Gefängnis

Norman Paech schildert Eindrücke von einem Besuch im Gaza-Streifen
Neues Deutschland 11.11.06
http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=100192&IDC=13

Ende Oktober 2006 besuchte Prof. Norman Paech, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, den Gaza-Streifen. Dort sprach er mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft sowie mit Aktivisten aus Basisorganisationen. Der Abzug der israelischen Siedler hat sich auf die Situation der Bewohner offenbar nicht positiv ausgewirkt, musste er feststellen.

Ein Ort der Zerstörung, der Gewalt und Selbstzerfleischung empfängt uns, als wir Ende Oktober Gaza besuchen und nach dem elenden Checkpoint Erez hinter der israelischen Grenze wieder ans Licht treten. Zu unserer Rechten befindet sich die »Erez Industrial Area«, ein Industriegebiet, das die israelische Armee erst vier Tage vor unserem Besuch mit Helikoptern und Bulldozern in Schutt und Asche gelegt hatte. Mit »Sicherheitsgründen« wurde die Attacke gerechtfertigt, man vermutete, dass hier Waffen und Munition hergestellt werden. Im Nachhinein stellte sich das als falsch heraus. Da, wo vor kurzem noch etwa 10 000 Palästinenserinnen und Palästinenser ihren Arbeitsplatz hatten, liegt nun nur noch ein leeres Ruinenfeld. Schon vorher hatte die Arbeitslosenquote bei etwa 40 Prozent gelegen: Hier träumt niemand mehr.
Im Gegenteil: Hätten die Bewohner von Gaza die freie Wahl, würden 60 Prozent ihre Heimat sofort verlassen – keine gute Nachricht, nachdem erst vor einem Jahr die letzten israelischen Siedler das Gebiet geräumt hatten. Welche Verheißungen, welche Illusionen verbanden sich damals mit der Entscheidung des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, den kolonialen Status von Gaza aufzuheben und den Palästinensern Autonomie, Würde und Selbstbestimmung zurückzugeben. Ökonomie, politische Institutionen, ihr Leben könnten sie fortan selbst organisieren, hieß es – aber was haben sie daraus gemacht?

75 Prozent leben unter der Armutsgrenze

Zu Zeiten der Apartheid nannte man das Schwarzen-Ghetto vor der heutigen namibischen Hauptstadt Windhoek »Katutura«, zu deutsch: »der Ort, an dem ich nicht leben will«. Gaza ist heute eine Art Katutura Jerusalems. Gut 75 Prozent seiner Bewohner leben unter der Armutsgrenze von 2,10 US-Dollars pro Tag. Wieder drängt sich die Frage auf: Warum haben sie nach dem Abzug der Israelis nicht mehr aus ihrer neuen Freiheit gemacht? Die israelischen Siedler hatten ihnen ihre Gewächshäuser hinterlassen, allerdings ohne die nötige technische Ausrüstung. Die hatten sie mitgenommen. Die Palästinenser machten sich also daran, mit hohem finanziellem Aufwand neue Geräte zu kaufen, zu installieren und die Gewächshäuser wieder zu bewirtschaften.
Mit Jerusalem war der Export der Produkte über den einzig zur Verfügung stehenden Übergang Karni ausgemacht. Als die ersten Lastwagen mit der Ernte am 25. Dezember 2005 anrollten, wurde der Übergang »aus Sicherheitsgründen« geschlossen. 17 000 Tonnen Obst, Gemüse und Blumen verrotteten oder wurden an das Vieh verfüttert.
Auch die zweite größere Einnahmequelle, der Fischfang, ist mittlerweile versiegt, weil – aus eben jenen »Sicherheitsgründen« – kein Boot mehr auslaufen darf. Und der Strom jener Arbeitskräfte, die sich allmorgendlich und abends durch die Drehtüren der Viehdrift am Erez-Checkpoint drängten, um in Israel Arbeit zu finden, ist völlig abgerissen. Für die Bewohner Gazas gibt es dort keine Arbeit mehr. Was aber kann man aus solch einer »Freiheit« machen?
Als wir am 30. Oktober abends den Gaza-Streifen wieder verlassen, hören wir über uns in der Dunkelheit die Rotoren der Helikopter. Man hatte uns prophezeit: »Wenn ihr weg seid, beginnt es wieder.«
»Es«, eine neue Militäroffensive, begann denn auch am Tag nach unserer Abreise. Nach einer Woche »Herbstwolken« waren über 50 Tote, zahllose Verletzte und schwere Zerstörungen zu beklagen. Seit dem 25. Juni, dem ersten Überfall der Operation »Sommerregen« nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit, sind es nun schon über 350 Tote und über 800 schwer Verletzte.
Die Krankenhäuser sind kaum noch in der Lage, die neuen Opfer zu versorgen. Das Personal ist ohne Bezahlung, da Jerusalem immer noch die Steuer- und Zolleinnahmen von 50 bis 60 Millionen US-Dollar monatlich einbehält. Das zerstörte Elektrizitätswerk, das zuvor fast die Hälfte des Gaza-Streifens mit Strom versorgte, ist erst zu 40 Prozent wieder aufgebaut. Nicht nur die medizinische Versorgung und die mit Wasser sind dadurch stark beeinträchtigt – mit dem Einbruch der Dämmerung versinken ganze Stadtviertel in Dunkelheit.

Waffenexperimente und neue Terrormethoden

Nachgewiesen ist, dass während der Offensive Phosphor eingesetzt wurde. Und es gibt neue, bisher nicht erklärbare Verwundungen, die offenbar aus der Verwendung noch unbekannter Munition stammen. Man vermutet die in den USA entwickelte Waffe DIME (Dense Inert Metal Explosive) mit extrem hoher Sprengkraft innerhalb eines kleinen Radius.
Jeder Krieg ist ein Experimentierfeld für neue Waffen und neue Methoden. Der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, John Dugard, hat in seinem jüngsten Report Anfang September davon berichtet, dass die israelische Armee eine neue Methode des psychologischen Terrors in Gaza anwendet. Einwohner werden vom militärischen Geheimdienst telefonisch gewarnt, dass ihr Haus innerhalb der nächsten Stunde bombardiert werde. Manchmal wird diese Drohung Realität, manchmal bleibt sie eine Drohung.
Diese Taktik verursacht unausweichlich Angst und Panik unter den Palästinensern. Sie werden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und als interne Vertriebene Zuflucht in Räumen der UN-Flüchtlingsorganisation zu suchen. Das bewahrt sie nicht vor einer anderen bekannten Methode des Terrors: Tiefflüge der F-16-Jäger mit Überschallgeschwindigkeit über den Wohngebieten. Die wie Artilleriefeuer wirkenden Schallwellen haben schlimmsten Schrecken unter der Bevölkerung und vor allem unter Kindern hervorgerufen. In den Worten Dugards: »Wenn Terrorismus überhaupt einen Ausdruck hat, dann sicherlich diesen.«
Israel beklagt, dass über 300 Kassam-Raketen auf sein Territorium abgefeuert worden seien, zumeist auf die Stadt Sderot. Deren Einwohner müssten in ständiger Angst leben, und es habe Verletzte und Schäden gegeben. Auch um diese Gefahr zu beseitigen, habe man zu den jüngsten Aktionen gegriffen. Es besteht kein Zweifel, dass dieser willkürliche und beliebige Raketenbeschuss trotz weniger Todesopfer und Verletzten eklatant gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt. Nach der Rechnung John Dugards fallen aber 220 bis 250 Granaten täglich auf Gaza, dazu kommen über 220 Bombardements aus der Luft sowie Luft-Boden-Raketen und eine lange Liste ernster Völkerrechtsverletzungen durch Israels Armee.

Klare Botschaft: »Reißt die Mauern ein«

Derzeit kommen 90 Prozent der Güter auf dem schwarzen Markt durch Tunnel nach Gaza – auch Waffen. Die Blockade kann dies nicht verhindern. Genauso wenig werden Israels heftige Reaktionen den Abschuss der Kassam-Raketen stoppen können. Wen man auch spricht – Unternehmer oder Mitglieder der Fatah, Banker oder Mitglieder der Hamas, UN-Mitarbeiter, unabhängige Politikerinnen und Politiker oder Mitglieder der »Volksbefreiungsfront Palästinas« – die Botschaft ist dieselbe: »Reißt die Mauern dieses Gefängnisses ein. Wir brauchen euer Geld nicht, nicht das, was ihr humanitäre Hilfe nennt. Wir brauchen Freiheit, offene Grenzen, ungehinderten Zugang zum internationalen Markt, zu unseren eigenen Steuer- und Zolleinnahmen, und wir werden unser Leben selbst organisieren können. Hebt den Boykott und die Blockade der aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung auf und wir werden unsere Auseinandersetzungen unter uns austragen können.«
Momentan scheint diese Vision in weiter Ferne: Wie die israelische Tageszeitung »Haaretz« unlängst berichtete, bauen die USA seit einiger Zeit in Jericho ein Trainingscamp aus, wo sie Truppen für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ausbilden und ausrüsten wollen. Partner dafür suchen sie angeblich unter den europäischen Staaten, und es gebe auch Pläne, derartige Camps im Gaza-Streifen einzurichten. »Haaretz« interpretiert die vermeintlichen Pläne als das, was sie offensichtlich bewirken sollen: die weitere Zuspitzung der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Abbas' Fatah und der Hamas, um schließlich doch noch eine Revision des Wahlergebnisses zu erreichen.
Damit aber nimmt die Politik kriminelle Züge an. Schon die Weigerung, das Ergebnis eines fairen und demokratischen Wahlprozesses anzuerkennen, war unverantwortlich. Sie bedeutet eine schwere Niederlage für die eigene Glaubwürdigkeit, das Völkerrecht und die Menschenrechte. Schlimmer: Es trägt nichts zur Lösung des alltäglichen Kriegs zwischen Israel und den Palästinensern bei, es verschärft die Gewalt und die Leiden beider Völker. Es ist höchste Zeit, dieses Gefängnis aufzulösen – im Interesse beider Gesellschaften, der palästinensischen und der israelischen.