junge Welt Ausland

26.10.2000
Aufstand in Nahost
Arafat repräsentiert nicht (mehr) die Mehrheit der Palästinenser. Von Peter Schäfer

Israel hat sich in den Augen der Palästinenser als Partner diskreditiert. Das gleiche gilt für die eigene politische Führung, die - sieben Jahre nach der Unterzeichnung der historischen Friedensvereinbarung - als korrupte Bande und Handlanger der Israelis betrachtet wird. »Arafat unterschreibt alles, was man ihm vorlegt«, so die verbreitete Meinung. Eine Handlungskette, die der palästinensische Präsident in diesem Jahr in Camp David viel zu spät unterbrochen hat.

Papiere zur Beendigung des Konflikts sind viele unterzeichnet worden, seit sich der ehemalige israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin und der Vorsitzende der PLO Yassir Arafat 1993 in Washington die Hände reichten. Ein 100 Jahre währender Konflikt wurde für beendet erklärt. Die Erwartungen waren hoch. Die Welt hoffte.

Auch die Palästinenser hofften. Sie erwarteten ein Ende der Besatzung und ihre Selbstbestimmung, die mit einer Staatsgründung erreicht werden sollte. Für die »Rückgabe« der 1967 besetzten Westbank und des Gazastreifens wollten die Israelis Sicherheit. Deshalb kooperieren Arafat und seine Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit den Israelis in Sicherheitsfragen. Gegner dieses Friedensprozesses werden seither von den Palästinensern selbst verhaftet. Der militante Arm der islamistischen Hamas, die den Friedensprozeß mit Selbstmordanschlägen zerstören wollte, wurde zerschlagen. Deshalb zog sich die israelische Armee im Laufe der Jahre aus den größeren palästinensischen Städten zurück. Die in Israel als einzigem Land legalisierte Folter konnte im September 1999 entschärft werden. Denn foltern können die Sicherheitskräfte Arafats auch selbst.

»Kein israelischer Ministerpräsident hat bisher so hohe Zugeständnisse gemacht wie Ehud Barak.« Diese Annahme liegt überwiegend der derzeitigen Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konfliktes zugrunde, welche die Palästinenser als »undankbar« erscheinen läßt, als »unkontrollierbar« und »fanatisiert«. Ihre Unzufriedenheit und ihre Wut werden als die Gründe ausgemacht, die den Friedensprozeß zum Erliegen gebracht haben. Im Schatten der wohlklingenden Verträge und Abkommen aber wurde die israelische Kontrolle über die palästinensischen Gebiete und ihre Bewohner gefestigt - eine Entwicklung, die den Unterdrückten alle Hoffnung auf ein normales Leben geraubt hat.

Der israelisch-palästinensische Friedensprozeß wurde unter der Vorbedingung eingeleitet, daß an seinem Ende Sicherheit besteht über die Grenzen des palästinensischen Staates, den Abbau der jüdischen Siedlungen in der Westbank und im Gazastreifen, über die Rückkehr der in der Diaspora lebenden palästinensischen Flüchtlinge und über Ostjerusalem als Hauptstadt Palästinas. Dies war das erklärte Ziel der Palästinenser; die Besatzungsmacht sollte sich schrittweise zurückziehen.

Der israelische Verhandlungspartner formulierte seine Erwartungen in der Parole »Land für Frieden«. Wieviel Land und welcher Frieden gemeint war, warum Israel die für die Palästinenser wichtigen Punkte erst am Ende diskutieren wollte, steht heute fest.

Ostjerusalem

Seit dem ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 war Jerusalem geteilt. Der Westen war israelisch, der Osten mit den islamischen Stätten jordanisch. Bereits am ersten Tag nach der Besetzung Ostjerusalems 1967 wurden die Bewohner des Maghreb-Viertels in der Altstadt aufgefordert, ihre Häuser zu räumen. Kurz danach fuhren Bulldozer vor. So entstand der heutige große Platz vor der Klagemauer, dem größten jüdischen Heiligtum.

Dies war der Anfang einer umfangreichen Judaisierung des palästinensischen Ostjerusalems. Ariel Scharon war der erste, der sich im muslimischen Viertel der Altstadt ein Haus kaufte. Es ist leicht an der überdimensionalen israelischen Fahne zu erkennen. Das Gebäude steht leer. Der Hausherr reist einmal im Jahr mit einem Troß von Sicherheitsleuten und Journalisten an, um sich und seine Ansichten in Szene zu setzen. Der Rechtsaußen, der für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 im Libanon verantwortlich ist, hat viele Nachfolger gefunden. Sie wohnen hinter Stacheldraht, von Soldaten gesichert. Kontakte zu den palästinensischen Nachbarn sind nicht vorgesehen, sollen diese das Land doch so schnell wie möglich verlassen.

Der Auftritt Scharons auf dem Haram ash-Sharif Ende September stand für die Politik jüdischer Extremisten und wurde von den Palästinensern auch so verstanden. Die für Muslime heiligen Stätten befinden sich an diesem Ort, auf dem vor 2 000 Jahren der jüdische Tempel stand. Die »Getreuen des Tempelbergs« wollen den Tempel wieder errichten. Zuvor müßten allerdings die islamischen Stätten geschleift werden. Eine Aufgabe, die Getreue jedes Jahr am jüdischen Feiertag Tisha Be-Av vollziehen wollen. Am Abend vorher bringen die palästinensischen Bewohner der Altstadt alle bewegliche Habe in Sicherheit und verbarrikadieren sich in ihren Häusern vor den durch die Straßen ziehenden, »Tod allen Arabern« grölenden israelischen Jugendlichen. Wer sein Auto nicht rechtzeitig wegschafft, findet es am nächsten Morgen demoliert wieder. Die diesjährige Demonstration am 16. Oktober hat die Polizei aufgrund der aktuellen Lage verboten.

David Ben-Gurion, der ehemalige israelische Ministerpräsident, gab 1967 die Parole aus, »Juden um jeden Preis nach Ostjerusalem« zu bringen. »Zehntausende Juden müssen innerhalb kurzer Zeit angesiedelt werden.« Drei Wochen nach der Eroberung legte die Knesset, das israelische Parlament, die Wiedervereinigung der Stadt fest und erweiterte die Stadtgrenzen. Im Juli 1980 annektierte Israel den Ostteil der Stadt.

Heute reicht Jerusalem im Norden bis an Ramallah, im Süden bis nach Bethlehem. Erst Ende letzten Jahres wurde die Grenze wieder um einige hundert Meter nach Süden hin verschoben. Damit einher geht die Ansiedlung jüdischer Israelis. Mit dem Ausbau der Siedlung Har Homa auf dem enteigneten palästinensischen Abu Ghneim ist der »Ring um Jerusalem« geschlossen. Die arabische Kernstadt ist heute völlig von jüdischen Satellitenstädten umgeben, ungefähr 170 000 Menschen leben dort.

Demographische Veränderungen werden zusätzlich durch die Ausbürgerung Ostjerusalemer Palästinenser erreicht. Nach Angaben des israelischen Innenministeriums wurden in den letzten fünf Jahren über 3 000 Ausweise eingezogen, wodurch die Betroffenen ihr Wohnrecht verloren. Wer während der Besetzung Ostjerusalems im Ausland war, darf nicht mehr zurück.

Palästinensern ist es verboten, in Ostjerusalem zu bauen. Viele ziehen deshalb in die Westbank. Seit 1991 verlieren sie so automatisch ihren Status als Bürger Ostjerusalems. In den letzten 32 Jahren wurde 40 000 Palästinensern das Wohnrecht entzogen. Mit annähernd 70 Prozent jüdischem Bevölkerungsanteil in Gesamtjerusalem kann Israel heute Maßnahmen legal, etwa mittels der Sanktionierung durch Wahlen, umsetzen.

Die Siedlungen

Der friedliche Name täuscht. Die Siedlungen in der Westbank und dem Gazastreifen stehen meist auf enteignetem palästinensischen Besitz. Ihre Bewohner stehen für den biblischen Anspruch auf Judäa und Samaria, wie sie es nennen. Und sie sind das größte Hindernis eines israelisch- palästinensischen Friedens. Bis 1991 gab es in den von Israel besetzten Gebieten (ohne Jerusalem) etwa 92 000 Siedler. Seit dem Beginn der Friedensverhandlungen hat sich diese Zahl mit etwa 200 000 mehr als verdoppelt. Dabei tut sich der derzeitige Premier Barak besonders hervor. Nachdem unter seinen Vorgängern Rabin und Netanjahu zirka 5 000 Wohneinheiten pro Jahr gebaut wurden, ist diese Zahl in seiner Amtszeit rasant auf 10 000 gestiegen.

Dabei bilden die ideologisch motivierten Siedler die Minderheit. Viele ziehen aufgrund des im Vergleich zu Israel billigen Wohnraums dorthin. Diese materielle Bindung an ihren Wohnort macht sie jedoch zu Teilhabern des nationalreligiösen Zieles der Gusch Emunim (Block der Getreuen) vom ganzen (biblischen) Eretz Israel, nach dem die ursprünglichen Bewohner dort »unrechtmäßig« leben. Dabei entstehen gefährliche Kuriositäten wie die 400 jüdischen Siedler inmitten der 120 000 Palästinenser in Hebron, eine Autostunde südlich von Jerusalem.

Am Stadtrand wohnen 4 000 weitere Siedler in Kiryat Arba, dem Heimatort von Baruch Goldstein, der vor sechs Jahren 29 Palästinenser beim Freitagsgebet erschoß und Hunderte verletzte. Ihm haben die Siedler in Kiryat Arba eine monumentale Gedenkstätte errichtet. Die dort starke rechtsextreme Kach-Bewegung ist selbst in Israel verboten.

Die als Folge auf das Attentat eingerichtete internationale Beobachtertruppe TIPH dokumentiert seit Jahren die Überfälle der Siedler und die Übergriffe der zu ihrem Schutz dort stationierten 1 500 israelischen Soldaten auf die palästinensische Bevölkerung. Bei einem großen Teil der Israelis sind diese Extremisten verhaßt. Der Unmut von Rekruten darüber, jene mit ihrem Leben beschützen zu müssen, die jeglichen Kompromiß mit den Palästinensern ablehnen, dringt immer öfter nach außen.

Siedlungen wie diese sind weit über die besetzten Gebiete verteilt. Ein eigens ausgebautes Netz von Umgehungsstraßen ermöglicht ihren Bewohnern den ungehinderten Zugang ins israelische Kernland ohne Kontakt zu ihren palästinensischen Nachbarn. Dabei, so Amira Hass von der israelischen Tageszeitung Haaretz, »zwingt die mosaikartige Verzahnung der israelischen und palästinensischen Ortschaften Israel dazu, in der Nähe der palästinensischen Bevölkerungszentren militärisch präsent zu bleiben. Israelische Sicherheitsforderungen werden den Palästinensern vorschreiben, auf welche Art und Weise Personen- und Warenverkehr zwischen ihren Gebietsteilen vonstatten geht«.

Nach diesen bewußt geschaffenen Tatsachen richtet sich die israelische Vorstellung von einem zukünftigen Staat Palästina.

Der palästinensische Staat

Der aktuellste Vorschlag Baraks sieht vor, den Palästinensern zirka 90 Prozent der Westbank zurückzugeben. Die restlichen zehn Prozent bestehen aus drei Gebieten, in denen die jüdischen Siedlungen zu größeren Blöcken zusammengefaßt werden sollen (»Westsamaria«, Ostjerusalem bis zur jordanischen Grenze, die Umgebung von Bethlehem). Nach Jeff Harper, Professor an der Universität Tel Aviv und Aktivist im Israelischen Komitee gegen Häuserzerstörungen, hat Israel sein Ziel nicht aufgegeben, das ganze Eretz Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan zu kontrollieren. Er sieht die Annektierung dieser zehn Prozent der Westbank als strategische Teilung des künftigen palästinensischen Staatsgebietes in drei Bantustans.

Die Kontrolle dieser Gebiete selbst wäre über die sie durchquerenden Umgehungsstraßen möglich. Deren Annexion sowie die eines 150 Meter breiten Streifens rechts und links der Straßen filetieren den palästinensischen Staat zusätzlich. Außerdem beansprucht Israel einen 40 Kilometer breiten Streifen an der Grenze zu Jordanien. Nachdem, was von den Camp-David-II-Verhandlungen vom Sommer an die Öffentlichkeit gelangte, soll Arafat dem zugestimmt haben.

Vom Gazastreifen entlang des Mittelmeeres wird zu recht als vom größten Gefängnis der Welt gesprochen. Die Grenzen nach Israel sind hermetisch abgeriegelt, die Kontrolle über die internationale Grenze zu Ägypten soll in israelischen Händen bleiben.

Geschlossene Gesellschaft

Eine Untersuchung der Weltbank hat unlängst festgestellt, Westbank und Gazastreifen gehören zu den ärmsten Gebieten der Erde. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Ihnen stehen pro Kopf täglich etwa zwei US- Dollar zur Verfügung, und das bei Lebenshaltungskosten, die so hoch sind wie in der BRD. Seit der verstärkten Abriegelung der besetzten Gebiete fallen auch viele Löhne weg, die die zur Zeit etwa 100 000 palästinensischen Tagelöhner in Israel verdienen. Eigene Anstrengungen zum Aufbau einer Wirtschaft wurden von Israel verhindert. Nun wurde vor sechs Jahren im Protokoll über wirtschaftliche Beziehungen der Aufbau einer palästinensischen Volkswirtschaft beschlossen. Da Import und Export jedoch von Israel behindert werden, lassen sich Investoren nur schwer finden.

In Zeiten wie diesen werden die Grenzen der besetzten Gebiete hermetisch geschlossen. Aber auch sonst dürfen sie nur Palästinenser mit speziellen Ausweispapieren verlassen. Innerhalb der Gebiete kontrolliert die Palästinensische Autonomiebehörde heute selbst. Diese Behörde rekrutiert sich zum Großteil aus der von Arafat geführten al-Fatah, der größten Fraktion in der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Sie besetzt alle einflußreichen Positionen und trägt sich hauptsächlich durch internationale Aufbauhilfen. Auch nachdem eine Finanzprüfung Unterschlagungen von dreistelligen Millionensummen festgestellt hat, wird an diesem Konzept nichts geändert. Die Palästinenser sollen befriedet werden, statt einen gerechten Frieden zu erhalten. Selbst am Ausbau der neuen Kontrollstation für Palästinenser am Übergang Bethlehem- Jerusalem verdient ein palästinensischer Minister, der Baulöwe Jamil Tarifi.

Die palästinensische Führung repräsentiert nicht mehr die Mehrheit der Palästinenser, wie dies noch zu Beginn des Friedensprozesses der Fall war. Schon Ende letzten Jahres ist die Palästinensische Autonomiebehörde bei Demonstrationen gegen Preiserhöhungen und ungesicherte Arbeitsverhältnisse angegriffen worden. Eine Initiative für Demokratisierung und Abbau der Korruption hat die Autonomiebehörde blutig bekämpft. Die Friedensverhandlungen erwiesen sich für viele Palästinenser nur als Zementierung ihrer schlechten Lebensbedingungen.

Die Ansiedlung eigener Bevölkerung auf besetztem Gebiet ist völkerrechtswidrig. Um Völkerrecht und UNO- Resolutionen hat sich Israel jedoch in den seltensten Fällen kümmern müssen. In der 1993 beschlossenen israelisch- palästinensischen Prinzipienerklärung legten die Unterzeichnenden fest, nichts ohne beiderseitiges Einverständnis zu unternehmen, was dem Ergebnis der Endstatus-Verhandlungen vorgreifen könnte.

Die anhaltende Enteignung palästinensischen Eigentums und der forcierte Ausbau der israelischen Siedlungen widersprechen damit sogar eigenen Verträgen. Dies und die Unzufriedenheit mit der eigenen Führung sind der Grund für die eskalierenden Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee. Deren Waffengänge werden selbst von Amnesty international als »unverhältnismäßig« verurteilt, die den Konflikt weiter anheizen.

Ein Frieden zwischen beiden Parteien ist nur auf der Basis der Einhaltung der völkerrechtlichen Bestimmungen und der Anerkennung der Menschenrechte der Palästinenser durch Israel möglich. Alles andere ist schlicht Kolonialismus.

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