Sonderseite zum Nato-Gipfel in Straßburg 2009

 

[home]
 

Angriffsbündnis
Vor zehn Jahren: Hochrangige Militärs beraten das neue Strategiekonzept der NATO
 

Von Rainer Rupp
junge Welt, 22.11.2008 / Geschichte / Seite 15

US-Bomber vom Typ B52 beim Landeanflug auf den englischen Flugha US-Bomber vom Typ B52 beim Landeanflug auf den englischen Flughafen Fairford (21.2.1999). Von dort aus flogen die Maschinen bald darauf Einsätze gegen Ziele in Jugoslawien Foto: AP

Am 24./25. November 1998 beriet der Militärausschuß der NATO (North Atlantic Treaty Organisation) in Brüssel unter dem Vorsitz des Bundeswehrgenerals Klaus Naumann den ersten Entwurf des neuen Strategiekonzepts der nordatlantischen Allianz. Nur wenige Monate später, auf dem vom 23. bis 25. April 1999 veranstalteten Jubiläumsgipfel zum 50. Jahrestag der Gründung des Bündnisses, wurde es in Washington von den 19 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer verabschiedet. Das Umfeld war bezeichnend: Am 12. März waren drei ehemalige Mitglieder des Warschauer Vertrages – Polen, Ungarn und die Tschechische Republik – dem Pakt beigetreten, womit die erste Runde der NATO-Osterweiterung abgeschlossen war. Und am 24. März 1999 hatte das Militärbündnis seinen verbrecherischen und völkerrechtswidrigen monatelangen Angriffkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien begonnen. Während an den Osterfeiertagen 1999 beim Jubelgipfel in Washington die Unterzeichnung des neuen Strategiekonzepts der NATO mit Champagner gefeiert wurde, verwüsteten NATO-Bomben unter deutscher Beteiligung zivile Ziele in Belgrad und töteten viele Menschen.

In dem neuen Strategiekonzept wurde die weitere expansive und aggressive Politik der NATO festgeschrieben. Allerdings hatte es diesbezüglich innerhalb der Allianz zunächst erhebliche Konflikte gegeben, vor allem wegen der von den USA und Großbritannien geforderten Aufhebung der geographischen Begrenzung des NATO-Einsatzgebietes, aber auch wegen der Durchführung militärischer »Nicht-Artikel-5-Operationen«1, also Angriffskriegen, die ohne UN-Mandat geführt werden. Kaum Beanstandung fand dagegen die folgenschwere Änderung, wonach die NATO in Zukunft neben dem Schutz der territorialen Grenzen der Mitgliedsländer die Interessen und gemeinsamen Werte ohne geographische Einschränkung »verteidigen« sollte – wozu auch ausdrücklich »der Zugang« zu Märkten und Rohstoffen gehört. Die Verteidigung der deutschen Sicherheit am Hindukusch, von der Exwehrminister Peter Struck (SPD) später sprechen sollte, war damit vorgezeichnet. Kein Problem stellte auch eine weitere Neuerung dar, nämlich die Androhung des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen gegen Nichtatomwaffenstaaten, falls diese chemische oder biologische Waffen gegen NATO-Kräfte einsetzen würden. Ein solcher Fall wäre gegeben gewesen, wenn z. B. das von der Allianz angegriffene Jugoslawien in seiner Verzweiflung gegen die Übermacht als letztes Verteidigungsmittel zu chemischen Waffen gegriffen hätte.

Nach der Auflösung des Warschauer Vertrags am 1. Juli 1991 hatte die NATO noch im selben Jahr ein neues Strategiekonzept verabschiedet. Kurze Zeit später war es zwar schon überholt, insbesondere durch das Auseinanderbrechen und Verschwinden der Sowjetunion (26.12.1991), aber während der folgenden sechs Jahre wollten die meisten europäischen NATO-Mitglieder dem Drängen Washingtons nach einem neuen Strategiekonzept nicht nachgeben. Denn dies hätte nicht nur der NATO eine neue Rolle zugewiesen, sondern auch bei der bevorstehenden Neuordnung Europas die führende Rolle der USA auf dem alten Kontinent bekräftigt. Statt dessen bemühten sich die westeuropäischen Kernländer, insbesondere Frankreich und Deutschland, alte militärische Strukturen wie die Westeuropäische Union (WEU) mit neuem Leben zu erfüllen, um auf eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität hinzuarbeiten. Deren erster Test war die Aufgabe, ohne US-Hilfe »im eigenen, europäischen Hinterhof«, nämlich auf dem Balkan, Frieden und Sicherheit zu schaffen und den jugoslawischen Bürgerkrieg zu beenden.

Die europäischen Bemühungen auf dem Balkan versagten jedoch kläglich. Auf einen Hauptgrund für dieses Versagen hat seinerzeit der ehemalige Staatssekretär Willy Wimmer (CDU) in seinem Brandbrief vom 2. Mai 2000 an Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verwiesen, in dem er festhielt, daß jedes Mal, wo sich Fortschritte zeigten, die US-Amerikaner dicke Knüppel in die europäischen Räder warfen, um auf diese Weise verstärkt die Rolle der NATO und damit die der USA ins Spiel zu bringen. Als schließlich die Vereinigten Staaten im Rahmen der ersten gemeinsamen Kriegsaktion in der Geschichte der NATO – aber mit einem Mandat der UNO – 1995 die bosnischen Serben bombardierten und sie politisch in die Knie zwangen, waren die rein europäischen Bemühungen auf dem Balkan endgültig marginalisiert und die Rolle der USA als »unverzichtbare Nation« (eine Formulierung der US-Außenministerin Madeleine Al­bright) »bestätigt«. Damit war der Weg frei für das neue Strategiekonzept des atlantischen Bündnisses, dessen Ausarbeitung auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 beschlossen worden war. Bis zum Jubiläumsgipfel 1999 in Washington sollte es unterschriftsreif sein.

Mit der Torpedierung der eigenständigen europäischen Friedensbemühungen auf dem Balkan war es der Clinton-Administration gelungen, den gordischen Knoten zu durchschlagen: Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Fortbestandes der NATO, der die Allianz seit dem Zerfall der Sowjet­union gelähmt hatte, war geklärt. Dem US-geführten Bündnis kam wieder eine neue bedeutende Rolle in dem sich im Umbruch befindenden Europa zu. Zugleich wurden die USA dadurch auch weiterhin fest in der zukünftigen europäischen Sicherheitspolitik verankert. Während es der Regierung Clinton gelungen war, diese Entwicklung durch den Bombenkrieg gegen die bosnischen Serben 1995 in die Wege zu leiten, wurde die Umwandlung der Al­lianz in eine globale Angriffsorganisa­tion an der Seite der USA aber erst durch den NATO-Angriffskrieg gegen Rest-Jugoslawien 1999 durchgesetzt. Dies geschah, indem Washington während der heißen Diskussionen über einzelne Punkte des neuen Strategiekonzepts Fakten schuf und damit die streitenden Diplomaten im NATO-Hauptquartier einfach überrollte.

Ohne die neue starke Rolle der NATO auf dem Balkan wäre den USA niemals das Kunststück gelungen, auch nach dem Ende des Kalten Krieges als »Erster unter Gleichen« im Bündnis ihre Vormachtstellung im »alten« Europa zu erhalten, diese auf das »neue Europa« auszuweiten und als außereuropäische Macht bei der Neuordnung Europas die maßgebliche Rolle zu spielen. Daß all dies nicht unter erheblichen Spannungen zwischen Washington und einigen europäischen Hauptstädten, insbesondere Paris, abgelaufen ist, versteht sich von selbst.

Vor allem die anglo-amerikanischen Forderungen an das neue Strategiekonzept, auch ohne UN-Mandat Nicht-Artikel-5-Operationen, also Angriffskriege, führen zu können, stießen bei etlichen Mitgliedern auf heftige Ablehnung. Als schließlich die NATO am 24. März 1999 die Aggression gegen Restjugoslawien vom Zaun brach, hatten sich in den NATO-Ausschüssen in Brüssel die Mitgliedsländer immer noch nicht darüber geeinigt, ob im neuen Strategiekonzept derartige Nicht-Artikel-5-Operationen ohne UN-Mandat gebilligt werden sollten. Mit dem Angriff gegen Jugoslawien hatten die USA und die NATO-Falken jedoch ein Fait accompli geschaffen. Dennoch blieb das Thema der Nicht-Artikel-5-Operationen bis zur Unterzeichnung des neuen (bis heute gültigen) Strategiekonzeptes umstritten. Erst vier Wochen später auf dem Jubelgipfel in Washington kam es zur Einigung. Die normative Kraft des Krieges hatte sich durchgesetzt.

1 Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vom 4.4.1949 regelt den »Verteidigungsfall«; darin heißt es u. a.: »Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine odermehrere von ihnen in Europa oder Nord­amerika als ein Angriff gegen siealle angesehen wird«.

Rainer Rupp arbeitete vom Januar 1977 bis zu seiner Verhaftung im Juli 1993 als DDR-Kundschafter unter dem Decknamen »Topas« in der politischen Abteilung im Brüsseler Hauptquartier der NATO, wo er als hoher Beamter angestellt war

Quellentext: Das neue Strategiekonzept der NATO vom April 1999

Gleich eingangs betont das Konzept die Neuartigkeit der sicherheitspolitischen Herausforderungen, die eine Anpassung der NATO-Strategie und des Instrumentariums erfordere:

»Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassender Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen.«

Zu diesem Zweck stellt das neue Konzept neben die klassischen Aufgaben der Abschreckung und Verteidigung der territorialen Grenzen die neue der »aktiven Krisenbewältigung« durch »Krisenreaktionseinsätze«. Bei der Krisenbewältigung handelt es sich jedoch nicht mehr um den klassischen, im Artikel 5 des NATO-Vertrages umschriebenen Verteidigungsfall. Deshalb betont das neue Strategiekonzept an verschiedenen Stellen ausdrücklich, daß die Krisenreaktionskräfte ein zusätzliches militärisches Mittel sind, die aus dem Rahmen des Artikels 5, d. h. aus dem Rahmen der klassischen Verteidigung, herausfallen:

»Sie (die Mitgliedstaaten) müssen auch bereit sein, einen Beitrag zur Konfliktverhütung zu leisten und nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze durchzuführen«. Weiter heißt es: »Die Vorkehrungen ermöglichen es den NATO-Streitkräften ferner, nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze durchzuführen, und stellen eine kohärente Reaktion des Bündnisses auf alle Eventualfälle dar.«