Schleichende Germanisierung

von Marcus Hawel, Ossietzky 9/2002

Das Thema Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen ostdeutschen Gebieten ist seit einigen Wochen wiederaufgelebt. Kaum war Günter Grass' Buch über den Untergang der »Wilhelm Gustloff« erschienen, stürzten sich Spiegel, Focus, stern auf das Thema. Heftiges Pochen auf persönliches Leid und nationales Beleidigtsein verband sich mit Forderungen der Landsmannschaften nach finanzieller Entschädigung. Allein für die den »Sudetendeutschen« zugefügten Verluste müßten Billionen-Beträge gezahlt werden, wenn es etwa nach dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Österreich, Gerhard Zeihsel, ginge. Für Tschechien zöge das den mehrfachen Staatsbankrott nach sich.

Den Vertriebenenverbänden aber geht es nicht nur ums Geld, sondern ebenso um die Wiedergewinnung des verlorenen Landes für die Vertriebenen und vor allem für Deutschland. Das verdeutlichten auch Reaktionen der CDU-Abgeordneten und Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, nachdem der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman gesagt hatte, die Sudetendeutschen seien Hitlers Fünfte Kolonne in der Tschechoslowakei und die Benes-Dekrete im Verhältnis dazu eine »milde Strafe« gewesen.

Eine ideologiekritische Studie über »Heimatrecht und Volkstumskampf« könnte den Umgang mit dem Thema versachlichen helfen; ihr Autor Samuel Salzborn hat zu dem Thema schon einiges veröffentlicht und bewiesen, daß er sich auskennt. Daß ihm die FAZ dennoch sogleich »tendenziöse Absicht« unterstellte, kann nicht verwundern: Sie ließ das Buch ausgerechnet von Herbert Hupka rezensieren, dem langjährigen Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien. Wenn Hupka schreibt, es gebe kaum eine Äußerung von Sprechern der Landsmannschaften, die bei Salzborn »nicht kritisch zerfetzt wird«, dann sollte man das als Kompliment verstehen.

Nachdem die Bundesrepublik im Zuge der osteuropäischen Transformation und der deutschen Einheit 1989/90 die Grenze an Oder und Neiße verbindlich anerkannt hat, stellten sich die Vertriebenenverbände, wie Salzborn zeigt, auf eine völkische Kulturpolitik ein, um »Volksgruppenrechte« für eine »deutsche Minderheit« in den osteuropäischen Staaten auf der Ebene des Völkerrechts zu etablieren. Ihren Traum von einem Großdeutschland (das während des kalten Krieges niemals zu realisieren gewesen wäre) gaben die Vertriebenenverbände nicht auf. Am Beispiel Polen macht Salzborn klar, wie stark die völkische Kulturpolitik darauf zielt, auf Umwegen das »Ganze« Deutschlands wiederherzustellen.

Mit Rückgriff auf die Vergangenheit bemühen sich die Vertriebenenverbände erfinderisch um die Rekonstruktion einer »völkischen deutschen Minderheit«, welche als völkerrechtlich anerkanntes Rechtssubjekt zum Bezugsobjekt der offiziellen Politik wird, um nationale Interessen zu legitimieren. Solche Politik wird als vorsorgliche und verantwortungsvolle Friedenssicherung in Europa ausgegeben, doch sie schürt den Konflikt, um ihn dann mit den Mitteln einer hegemonialen Kulturpolitik zu befrieden: Kulturkampf als Fortsetzung des völkischen Krieges mit anderen Mitteln. Die von Hitler-Deutschland angestrebte Vorherrschaft in Europa soll nicht für alle Zeit und nicht ganz und gar gescheitert sein.

Salzborn kennzeichnet das »Volksgruppenrecht«, mit dem im Sinne der Vertriebenenverbände nach und nach auf nationalen und internationalen Ebenen die rechtliche Voraussetzung dafür geschaffen wurde, daß in Osteuropa ein völkischer Kampf um Hegemonie mit den Mitteln einer aggressiven Kulturpolitik geführt werden kann, als »Einfallstor der Irrationalität in die völkerrechtliche Jurisprudenz«. Und er sieht große Gefahren für die Sicherheit Europas, wenn die Ethnisierung weiter vorangetrieben wird und zu einer völkisch-politischen Neuordnung des Kontinents führt, vor allem wenn daran die politische Integration Europas scheitern sollte.

Die völkische Kulturpolitik zeigt längst Erfolg. Die bevölkerungspolitische Massenbasis einer »deutschen Minderheit« in Polen hat sich in den 90er Jahren kontinuierlich vergrößert - trotz der steil angestiegenen Aussiedlerzahlen in der ersten Zeit nach 1989. Immer mehr polnische Staatsbürger bekennen sich zur deutschen Kultur und nehmen damit eine »deutsche Identität« an. In Oberschlesien gibt es nunmehr ein weitverzweigtes, überraschend gut ausgebautes und mitgliederstarkes Netzwerk an politischen und kulturellen Deutschtumsverbänden. Der hohe Organisationsgrad ist vor allem durch die Einführung deutschsprachiger Zeitungen und Schulen zustande gekommen, wie Salzborn berichtet. In vielen Regionen hat diese »deutsche Minderheit« auch über Kommunalparlamente und Regionalvertretungen erheblichen politischen Einfluß gewonnen.

Die Sprache wird im völkischen Kulturkampf zur entscheidenden Waffe. Laut Benedict Anderson, auf den sich Salzborn bezieht, besteht die wichtigste Eigenschaft der Sprache darin, vorgestellte Gemeinschaften hervorzubringen, in denen besondere Solidaritätsgefühle vorherrschen. Zur deutschen Identitätskonstruktion in Osteuropa bedurfte es großer finanzieller Aufwendungen. Allein im Zeitraum von 1988 bis 1998 förderte die Bundesregierung die Vertriebenenverbände mit mehr als 100 Millionen Mark. Ein Drittel davon war für die Bestandssicherung der Verbände bestimmt, zwei Drittel waren Projektmittel für »grenzüberschreitende Kulturarbeit«, d.h. für ihre Arbeit im osteuropäischen Ausland. Salzborn spricht von einer »finanziellen und ideellen Protektion« durch die damalige Bundesregierung, ablesbar auch an der engen Verbindung zwischen den Vertriebenenverbänden und hochrangigen CDU/CSU- und FDP-Politikern, an Grußbotschaften und Festvorträgen. In seiner überzeugenden Darstellung erweisen sich die ums »Recht auf die Heimat« kämpfenden Verbände als verlängerter Arm der deutschen Außenpolitik (als deren Kultursoldaten). Der Vorwurf, anderen Staaten mit »völkischem Partikularismus« zuzusetzen, ist also nicht nur gegen die Vertriebenenverbände, sondern auch gegen die Bundesregierung selbst zu erheben - zumindest für den Zeitraum, den dieses Buch behandelt.

Mit dem rot-grünen Regierungswechsel 1998 bricht Salzborn seine Studie ab - leider. Im Wahljahr 2002 wäre es von besonderem Interesse, inwieweit die rot-grüne Bundesregierung eine wirkliche Alternative ist. Daß der vom obersten Schutzpatron der Sudentendeutschen Landsmannschaft, Edmund Stoiber, herausgeforderte Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen Staatsbesuch in Tschechien nach Milos Zemans Äußerungen abgesagt hat und offenbar jeden Konflikt mit den Vertriebenenverbänden scheut, ist schon verdächtig.

Samuel Salzborn: »Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung«, Offizin Verlag Hannover, 304 Seiten, 22 Euro