Ich bin ein Deserteur

Das Leben als Soldat im Irak-Krieg. Ein flüchtiger Deserteur der US-Armee berichtet von seinen Erlebnissen. Von Joshua Key

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Joshua Key/Lawrence Hill: Ich bin ein Deserteur. Aus dem Amerikanischen von Anne Emmert. Hoffmann und Campe, Hamburg 2007. 255 S., 19,95 Euro.

Der erste Monat in Ramadi – Ende April bis Ende Mai 2003 – war für mich die ruhigs­te und einfachste Zeit im Irak. Die Bewohner von Ramadi waren vor unserer Ankunft bombardiert worden. Daher brauchte der irakische Widerstand wohl eine Weile, um sich zu organisieren. Am Anfang unserer Dienstzeit in Ramadi erlebten wir keine Raketen- oder Mörserangriffe, niemand deckte uns mit Granaten ein, und es fielen kaum Schüsse, wenn wir in der Stadt unterwegs waren. In meinem Zug gab es keine Verletzten oder Toten. Ich gewöhnte mich an meine vier Hauptaufgaben: Haus­durch­su­chun­gen, Patrouille auf den Straßen und an den Verkehrskontrollpunkten, das Bewachen von Banken, Krankenhäusern und Militärgebäuden sowie niedere Arbeiten in Saddam Husseins ausgebombtem Palast, den wir bezogen hatten.

Im Palast bekamen wir nicht sonderlich viel Schlaf ab. Die ganze Zeit schwebten Apache-Kampfhubschrauber in der Luft und donnerten Kampfjets über uns hinweg. Nachts schossen unsere Streitkräfte ständig Leuchtraketen in den Himmel. Wie rie­sige Feuerwerkskörper explodierten sie eine nach der anderen, sodass es über Ramadi nie dunkel wurde. Manchmal erhielt ich den Befehl, ganz in der Nähe des Palastes am Ufer des Euphrat zu patrouillieren. Häufig sah ich, wie irakische Fischer in kleinen Booten den Splint aus Handgranaten zogen und sie in den Fluss warfen. Sie warteten, bis sich das aufgewühlte Wasser beruhigt hatte, und sammelten dann die toten Fische ein. Fische, die voller Granatsplitter steckten, kamen mir nicht gerade appetitlich vor, aber die Männer suchten offenbar verzweifelt nach Nahrung und einem Auskommen.

Um die Männer unseres Zuges mit einer notdürftigen Dusche zu versorgen, legte ich eine Wasserleitung vom Euphrat zu unserem Palast und installierte eine Pumpe. Außerdem schloss ich unsere Elektrik an das irakische Stromnetz an, sodass wir Strom für Licht, Ventilatoren und Klimaanlagen hatten. Dabei hätte ich mir jederzeit einen tödlichen Stromschlag holen können, doch ich dachte keine Sekunde über die Gefahren nach. Ich lebte in ständiger Angst vor Angriffen, wurde bei den Hausdurchsuchun­gen dauernd von Adrenalin­stößen aufgeputscht und schlief nie länger als ein paar Stunden am Stück. Daher war ich permanent high und verschwendete nicht mehr Gedanken an den Saft im irakischen Stromnetz als an die amerikanische Bombe, neben der ich schlief, oder die Granate, die ebenfalls nicht losgegangen war und auf die ich urinierte, wenn ich nachts mal rausmusste.

Weil ich einer der Rangniedrigsten war, musste ich alle paar Tage den schlimmsten Job erledigen, den es gab: das Verbrennen unserer Fäkalien. Wir machten unser Geschäft in Hundertfünfzig-Liter-Fässer, die in der Mitte durchgeschnitten waren. Wenn sie voll waren, schüttete ich fünfzehn Liter Diesel dazu, zündete ihn mit dem Streichholz an und rührte die Scheiße mit einem Zaunpfahl um. Ich musste mehr Diesel dazugeben und anzünden und immer weiter rühren, um die Scheiße am Brennen zu halten. Bei der Arbeit legte sich mir die Asche aufs Gesicht und die Hände. Es dauerte meh­rere Stunden, bis ich die Scheiße auf diese Art verbrannt hatte.

In ihrer Freizeit lasen einige der Männer oder hörten Musik. Die meisten spielten Gameboy. Oft sahen wir uns zu mehreren Videos an, die wir von irakischen Straßenhändlern gekauft hatten oder die Said uns besorgt hatte.

Der 19jährige Said war Iraker und in England zur Schule gegangen. Nun dolmetschte er für zwanzig Dollar die Woche für uns und erledigte Botengänge. Auf tragbaren DVD-Geräten sahen wir uns alle möglichen Filme an: Actionfilme, Kriegsfilme und Pornos. Einmal brachte uns Said Pornos mit asiatischen Kindern. Entsetzt sah ich, wie ein Mädchen im Teenageralter auf eine Liege geschnallt und von zwei Männern vergewaltigt wurde. Mitten im Kriegsgebiet, umgeben von dröhnenden Panzern und kreischenden Kampfjets, starrte ich wie betäubt auf die Mattscheibe und fragte mich, was nur los war mit der Welt. Die anderen Soldaten und ich glotzten nur dumm auf den Bildschirm, bis Staff Sergeant Lindsay der Show ein Ende bereitete, uns als Perverse beschimpfte, sich die DVD schnappte und entzweibrach.

Unsere Vorgesetzten sagten uns, es sei in Ordnung, wenn wir masturbierten, denn sie wollten, dass wir mitbekamen, wenn wir Blut im Sperma hatten. Das hätte, wie man uns sagte, auf einen Befall mit Kolibakterien hingewiesen. Die Männer machten sich einen Spaß daraus, darum zu wetten, wer es am längsten ohne Masturbieren aushielt. Der Wettkampf ging auf gegenseitiges Vertrauen, denn es wäre ohnehin ein Leichtes gewesen zu mogeln.

Weil ich Tag für Tag mit den gleichen Jungs aß, kackte, schlief und Häuser stürmte, kannte ich sie mit der Zeit ziemlich gut. Es gab fast nichts, was ich nicht über sie wusste. Ich wusste, wer von seiner Frau gerade per Brief den Laufpass bekommen hatte, ich kannte den armen Kerl, der zwei Stunden am Telefon angestanden hatte und dem dann seine Frau kurz und bündig erklärte, dass sie einen neuen Mann im Bett hatte. Ich wusste, wer aus Indiana kam und wer aus Alaska. Ich wusste, wer Videospiele mochte und wer Romane von Dean Koontz las. Ich wusste, welcher Soldat den größten Penis hatte – gemessen mit dem Steckschlüssel unter den Augen der anderen – und welcher, wenn er endlich aus dem Irak rauskam, Elektriker werden wollte. Doch ich wusste fast von keinem, wie er mit Vornamen hieß. Wir hatten alle den Nachnamen mit Rang auf der Uniform stehen und sprachen uns daher auch nur mit Nachnamen an. Keiner kannte mich als Josh. Ich war für alle nur Key und kannte auch die anderen nur unter ihrem Nachnamen.

Weil ich auf einer Farm in Oklahoma aufgewachsen war und bei ein Meter fünfundsiebzig Körpergröße fünfundneunzig Kilo wog, beschimpften mich die anderen ständig als Fettsau, und ich musste mir allerlei Schwachsinn über die Schweineficker aus Oklahoma anhören. Im Irak verlor ich allerdings schnell an Gewicht, und als die anderen merkten, dass ich der Geschickteste von uns war, hörten sie bald auf, mich zu ärgern. Ich kann so gut wie alles reparieren – vielleicht nicht perfekt, aber ich bringe es doch so hin, dass es wieder funktioniert. Aus diesem Grund bekam ich bald wie­der meinen alten Spitznamen MacGyver. Auf Befehl brachte ich irakische Lkw, Taxis und Autos wieder in Gang. Ich machte mich nützlich, hielt mir so die Sticheleien vom Hals und kam mit den meisten Soldaten aus.

Specialist Sykora setzte es sich in den Kopf, von unserem Dolmetscher Said zu erfahren, wie man auf Arabisch Frauen anmacht. Er und ein paar andere lernten Phrasen, die klangen wie sofini diaitscha, was angeblich so viel hieß wie »Zeig mir deine Titten«, und sofini guhsguhs, »Zeig mir deine Muschi«. Wenn sie zu Fuß patrouillierten, riefen sie das den arabischen Frauen auf der Straße zu. Ich nahm diese Worte nie in den Mund und sorgte mich um die Sicherheit der irakischen Frauen, die manchmal mit ihren Männern durch die Straßen gingen. Wenn ihre häusliche Situation auch nur entfernt so war wie bei meiner Mutter, würden ihre Ehemänner sie sicher schon dafür grün und blau schlagen, dass sie angemacht worden waren.

Eines Tages bewachten wir das Kinderkrankenhaus in Ramadi, und Jones, der auf der Straße auch gern irakische Frauen anquatschte, hielt eine Ärztin an, die auf dem Weg ins Gebäude war. Er zwang sie dazu, ihren Schleier hochzuschieben. Ich sagte ihm, er solle sie in Ruhe lassen, aber es war schon zu spät. Sie schob den Schleier hoch und starrte Jones ins Gesicht. In ihren Augen stand die kalte Wut. Als sie später das Krankenhaus wieder verließ, kam sie erneut an uns vorbei und fauchte Jones an:

»Übrigens, du Arschloch, ich bin in Boise, Idaho, geboren und aufgewachsen.« Sie sei in den Irak gekommen, um ihrem Volk im Krieg zu helfen. Jones war es so peinlich, dass er kein Wort herausbrachte, was mich für die Frau aus Idaho freute.

Specialist Sykora stand auf Romane von Dean Koontz, auf »007«, das Game-Boy-Spiel »Splinter Cell« und die Kämpfe der World Wrestling Federation. Geboren war er in Chicago, doch seine Frau und seine Kinder lebten in Ohio. Sykora sagte, seine Frau lasse ihn den Militärdienst nicht quittieren, weil sie das Geld und die Krankenversicherung brauchten. Später wollte er sein Leben umkrempeln und Elektriker lernen, doch er hing nun schon seit Jahren bei der Army fest und war bereits 36. Ich fragte mich, ob er wohl lebenslänglich dienen würde.

Nicht lange nach der Erschießung und Enthauptung der vier irakischen Zivilisten beschlossen Sykora und ich, uns zu betrinken. Im Krieg herrschte zwar strenges Alkoholverbot, doch wir wollten unsere Ängste trotzdem mit Bier und einer Flasche jordanischem Whisky ertränken.

Wir waren schockiert über die Todesfälle, aber auch frustriert über Captain Bower, der kurz zuvor das Kommando über unsere Kom­panie übernommen hatte. Er hatte eine direkte und energische Art, und ich mochte ihn nicht. Bower wusste, dass seine Soldaten sich über die tägliche Gefährdung beklagt hatten, und sprach die Sache bei einer Zusammenkunft mit un­serem Zug ohne Umschweife an. Er bohrte mir den Finger in die Brust und hielt gleichzeitig Sergeant Fadinetz einen Vortrag: »Wissen Sie was, Sergeant?«, erklärte er. »Ihre Gefährdung ist mir völlig schnurz. Solange hundert von euch durch diese Tür gehen und nicht weniger als fünfundsiebzig wieder zurückkommen, bin ich vollkommen zufrieden; das ist eine akzeptable Rate.«

Sykora und mir wurde in diesem Moment bewusst, dass wir in den Augen unserer Vor­gesetzten kaum mehr als eine Nummer wa­ren. Denen war es offenbar ziemlich egal, ob wir lebendig oder tot waren. Das Gefühl, entbehrliche Gebrauchsgegenstände zu sein, gab Sykora und mir zusätzlich Anlass, uns schlecht zu fühlen. Wir zogen uns in einen abgelegenen Teil des Geländes zurück – den keiner je betrat, weil die Air Force ihn so gründlich bombardiert hatte, dass man nicht wissen konnte, wann das Bauwerk einstürzen würde – und kippten Bier und Whisky in uns hinein.

Auch das Essen bot eine willkommene Ablenkung. Zwei Schwarze in meiner Kompanie weigerten sich, die Militärrationen zu essen, und kauften stattdessen Sandwiches mit Lammfleisch für zwei Dollar die Portion. Mir schmeckten die Sandwiches auch, und ich aß sie hin und wieder mit Tabasco und Ketchup. Ein irakischer Straßenhändler, der am Straßenrand große Lammschlegel grillte, verkaufte sie.

Obwohl wir in ihre Häuser einbrachen, auf ihren Straßen patrouillierten und ihre Autos filzten, kamen die irakischen Straßen­händler weiter zu uns und versorgten uns mit Kleidung, Pfeifen, Zigaretten, Kebab, Cola, Eis, Pornos und Videos, die mit der Kamera im Kino aufgenommen worden waren. Unser Essen war so miserabel und wir langweilten uns dermaßen, dass die Händler immer Geschäfte mit uns machen konnten. Ich gab fünfzig Dollar im Monat für Essen, Getränke und Souvenirs aus. Bei manchen Kameraden unseres Zugs war es noch mehr.

Die Mutter eines Soldaten aus unserer Kompanie – eines dürren Neunzehnjährigen namens Lewis – bereitete zu Hause in Illinois Beef Jerky zu, eine Trockenfleischspezialität. Es war scharf und würzig und brannte in der Kehle. Wenn Lewis ein Proviantpaket von zu Hause erhielt, bekam ich immer ein dickes Bündel Beef Jerky und sah zu, dass es möglichst lange hielt.

Die meisten von uns kamen aber um unser Hauptnahrungsmittel, die Militärrationen, die aus so genannten Einmannpackun­gen bestehen, nicht herum. Wir sollten drei solcher Packungen pro Tag zu uns nehmen. Die meisten Männer waren sich einig, dass sie zum Übelsten gehören, was ein Mensch je zu sich nehmen musste. In der fast unzerstörbaren Packung hielt die Trockennahrung angeblich zehn Jahre. Für einen Soldaten im Krieg ist die Einmannpackung in erster Linie praktisch, weil sie sich sogar selbständig erwärmt. Man gießt etwas Wasser dazu, und schon beginnt das Zeug von selbst zu blubbern und zu sieden. In ein oder zwei Minuten hat man eine warme Mahlzeit – was noch lange nicht heißt, dass sie auch genießbar ist. Ich vertrug nur eines der Gerichte und machte meinen Trup­pkameraden klar, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten, wenn sie es mir streitig mach­ten: Die Rinder-Enchilada gehörte mir und niemandem sonst. Wenn ich sie in Tabascosoße ertränkte, erinnerte mich die Enchilada entfernt an die mexikanische Küche in Okla­homa. Abgesehen von den Erinnerungen an zu Hause hatte sie noch einen weiteren Vorteil: Sie wurde nicht durch irgendwelches Gemüse verdorben. Ich bin kein Gemüse­freund. Meiner Meinung nach verdirbt Gemüse jedes Gericht.

Wenn meine Truppkameraden und ich in unserem APC zum Kinderkrankenhaus von Ramadi fuhren, um Wache zu stehen, nahmen wir unsere Einmannpackungen mit. Da unsere Einsätze meistens vierundzwanzig Stunden dauerten, hatten wir im APC vor dem Krankenhaus immer einen Stapel Einmannpackungen liegen. Wenn wir alle vier Stunden abgelöst wurden, schnappten wir uns eine Einmannpackung und eine Flasche Wasser.

Der Wachdienst vor dem Krankenhaus war psychischer Stress. Wir waren ständig in Alarmbereitschaft und mussten daher unsere Waffen schussbereit haben. Doch da eigentlich nie etwas passierte, verging die Zeit im Schneckentempo. Die Sonne brannte auf uns nieder, und wir fanden kaum einen schattigen Flecken.

Wenn ich auf dem Dach Wache stand, unterhielt ich mich manchmal mit einem Arzt mittleren Alters namens Muhammad, der in seinen Pausen zum Rauchen herauskam und über die Stadt blickte. Er sprach gut Englisch und erzählte mir, dass er siebzehn Kinder habe. Eines Tages fingerte er an dem Stethoskop herum, das er um den Hals hängen hatte, und erzählte, dass zwei seiner Söhne von Saddam Husseins Leuten in Ramadi gehenkt worden waren. Er möge Saddam Hussein nicht, sagte er, aber er wolle auch keine Amerikaner in der Stadt haben.

»Wo kommen Sie her?« fragte er mich.

Ich erzählte ihm von meinem Leben in Oklahoma. Wie viele Iraker war er überrascht, dass ich in Armut aufgewachsen war. Doch er fand es gut, dass ich eine Frau und drei Kinder hatte.

»Was meinen Sie, wann die US-Soldaten abziehen werden?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich, »aber ich habe so das Gefühl, dass wir sehr, sehr lange hier sein werden.«

Er verzog das Gesicht.

»Ich sage Ihnen etwas«, fügte ich hinzu, »ich freue mich genauso darauf, hier rauszukommen, wie Sie sich freuen, wenn ich weg bin.«

Da musste er lachen. Ich fragte ihn, was er vor Kriegsbeginn gemacht hatte, und er erzählte, dass er an den Universitäten Rama­di und Bagdad Medizin unterrichtet habe. Ich hatte gehört, wie schwer es für irakische Krankenhäuser war, nach dem ersten Golfkrieg Medikamente zu bekommen, und wollte ihn gerade danach fragen, als eine verärgerte Stimme aus meinem Walkie-Talkie krächzte. Es war einer meiner Vorgesetzten.

»Key! Hören Sie auf, mit dem Feind zu fraternisieren.«

Muhammad kam allerdings noch öfter auf das Dach. Das gab uns die Gelegenheit, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Er rauch­te gern; das hatten wir gemeinsam.

»Was arbeiten Sie in Oklahoma?«

»Was ich finden kann«, sagte ich. »Ich mache Malerarbeiten, liefere Pizzas aus, aber eigentlich will ich Schweißer werden.«

»Mein Land könnte auch Schweißer gebrauchen«, sagte er.

»Das hier ist nur ein Job für mich. Ich versteh nicht einmal so richtig, worum es eigentlich geht«, sagte ich.

»Ein Job?«, wiederholte er verwirrt. »Dann sind Sie anders als die meisten Ameri­kaner hier.«

Das nächste Mal, dass wir uns trafen, gab mir Muhammad eine kleine Ausgabe des Koran. Sie war auf Arabisch, doch ich war von dem Geschenk gerührt. Ehe es einer meiner Vorgesetzten bemerken konnte, schob ich mir das Büchlein schnell in die Hosentasche.

»Ich hoffe, das hilft Ihnen«, sagte er, »und dass Sie heil zu denen zurückkehren, die Sie lieben.«

Jedes Mal, wenn ich durch die Korridore des Krankenhauses und hinauf aufs Dach ging, dachte ich an Muhammad und wie schwierig seine Arbeit sein musste. Es war deprimierend. Mich schüttelte es bei der Vorstellung, in einer so schmutzigen Umgebung eine medizinische Behandlung zu bekommen. Am Boden und neben den Toiletten lagen überall Spritzen herum, und ich sah Blut und Föten. Ich nahm an, dass die winzigen Körper Opfer von Frühgeburten waren, und überlegte mir, wie schwer der Krieg für die irakischen Frauen sein musste. Wenn ich bedachte, dass das Krankenhaus nicht einmal über die Ausstattung verfügte, Spritzen und Föten zu entsorgen, bekam ich bei der Vorstellung, wie wohl die Lebenden behandelt wurden, eine Gänsehaut. Ich fragte mich, inwieweit unser Einmarsch schuld war an diesen Schwie­rigkeiten, und bewunderte Muhammad, die anderen Ärzte und die Schwestern, die versuchten, das Leben von kranken und verletzten Kindern zu retten.

 

24 Stunden am Stück Wache zu stehen, vernichtet wohl mehr Gehirnzellen als Alkohol. Auf mich hatte es eine betäubende Wirkung. Ich rauchte, kaute meinen Pfriem, schüttete ein Fläschchen Tabascosoße nach dem anderen herunter, kaufte bei den Straßenhändlern Cola, fragte mich, wie es Brandi und den Jungs im Stützpunkt in Colorado wohl erging und ob Adams Arm, den er sich vor meinem Abflug gebrochen hatte, mittlerweile geheilt war, und freute mich über jede Abwechslung, die mich wach hielt. Eine solche Abwechslung kam in Gestalt eines kleinen irakischen Mädchens, das mit seiner Familie gegenüber dem Krankenhaus wohnte und mir täglich einen Besuch abstattete.

Ich wünschte, ich wüsste, wie es hieß, doch sie sprach fast kein Englisch, und ich konnte kein Arabisch. Sie war etwa sieben Jahre alt, hatte schulterlanges braunes Haar und war selbst für ein kleines Kind unglaublich mager. Meistens trug sie eine Schuluniform: ein weißes Hemd, einen blauen Rock und Sandalen. Jedes Mal, wenn ich vor dem Krankenhaus Dienst hatte, kam die Kleine zum Zaun gerannt und rief die einzigen eng­lischen Wörter, die sie konnte: »Mister, food.« Immer wieder bettelte sie um Essen, und ich erinnere mich gut an ihre hohe Stimme, ihren atemlosen Enthusiasmus. Sie hatte keine Scheu, steckte voller Energie und fürchtete sich auch nicht vor meinem M249. Als wüsste sie gar nicht, dass sie sich in einem Kriegsgebiet befand, kam sie zum Zaun gerannt, wie meine Kinder zum Sandkasten laufen würden, und rief: »Mister, food.«

In meiner zweiten Dienstzeit in Ramadi Ende Juni bis Ende Juli stand ich mindestens dreißigmal am Krankenhaus Wache. Jedes Mal, wenn ich Dienst hatte, kam sie an. Ich saß direkt hinter dem Zaun auf einem Stein, stand aber immer auf, um sie zu begrüßen. Ich fragte mich, wer ihr die Wörter beigebracht hatte. Vielleicht war es ihre Mutter, die oft in der Tür ihres baufälligen Hauses stand und darauf wartete, dass ihre Tochter der Familie etwas zu essen mitbrachte.

Als sie zum ersten Mal zu mir kam, versuchte ich, sie zu ignorieren. Wir hatten den Befehl, nur mit Erlaubnis unserer Offiziere mit irakischen Zivilisten zu reden. Ich wusste, dass es besser für mich war, mich nicht mit ihr abzugeben. Auch eine Siebenjährige sollte amerikanischen Soldaten mit Gewehren im Anschlag besser nicht zu nahe kommen.

»Mister! Essen!«

»Geh weg«, sagte ich.

»Mister! Essen!«

Ich wedelte mit der Hand, um sie fortzuscheuchen, da sie meine Worte sicher nicht verstand.

Sie bettelte weiter, und ich murmelte: »Na los, Schwesterchen, du musst echt weg hier.«

Sie lächelte mich weiter an und rührte sich nicht von der Stelle. Schließlich reichte ich ihr über den gut einen Meter zwanzig hohen Maschendrahtzaun meine Einmannpackung. Sie enthielt Rinder-Enchi­lada, Ta­bas­cosoße, eine Packung Käse, ein paar Cracker, zwei Kaugummis, eine Tüte M&M, ein Tütchen Getränkepulver mit Orangengeschmack und ein Päckchen Streichhölzer. Das Paket war mit Plastikfolie dicht versiegelt, etwa dreißig Zentimeter lang, fünfzehn Zentimeter breit und gut sieben Zentimeter dick. Es wog ein knappes Pfund. Sie nahm es, machte kehrt und rannte damit nach Hause. Ich weiß nicht, wie ihre Familie damit zurechtkam. Die Anleitung war in win­zigen Buchstaben nur auf Englisch aufgedruckt. Ich weiß nicht, ob ihre Familie herausfand, dass man den Beutel aufreißen, Wasser hineingeben und das Ganze etwa eine Minute lang kochen lassen muss, ehe man es essen kann. Ich hatte keine Ahnung, was eine arme ira­kische Familie mit einer Mahlzeit an­fängt, die für die Ernährung von Astronauten entwickelt wurde. Vielleicht fanden sie sie so gräss­lich, dass sie nicht mehr wiederkommen würde.

Doch drei Tage später, als ich das nächs­te Mal Wachdienst am Krankenhaus hatte, rannte sie wieder aus ihrem Haus, überquerte die schmale Straße und kam zu dem Zaun, hinter dem ich stand.

»Mister! Essen!«

Ihr Gesicht und ihre Füße waren schmutzig. Ich überlegte mir, wie extrem schwie­rig es wohl war, in einem Land mit einer zerstörten Infrastruktur und ohne Wasserversorgung ein Kind sauber zu halten.

Wieder versuchte ich, sie abzuwimmeln, doch sie reagierte gar nicht, sondern blieb einfach stehen, bis ich ihr meine Einmannpackung gab. Diesmal hatte ich ein anderes Gericht in der Tasche meiner Cargohose. Hühnerragout Country-Art mit einem Päckchen Erdnussbutter, einem Döschen Marme­lade, einer Scheibe vakuumverpacktem Brot, einem Stückchen Mohn-Zitronen-Kuchen, Pfefferminzkaugummi und Getränkepulver. Ich reichte es ihr. Sie lächelte, nahm es und rannte damit davon. Als sie zur Haustür kam, sah ich jedoch, dass ihre Mutter ihr eine Ohrfeige gab und sie zu mir zurückschickte.

»Mister. Mehr Essen.« Aha. Ein drittes Wort. Sie hörte nicht auf meine Warnung, sich aus der Gefahrenzone fernzuhalten, und blieb stehen, bis es mir gelang, ihr ei­ne wei­tere Einmannpackung zu besorgen. Dazu funkte ich meine Truppkameraden im APC an und bat sie, mir eine zu bringen. Diesmal war es Rindfleisch-Teriyaki.

Als sie mit dem zweiten Päckchen nach Hause kam, erhielt sie keine Ohrfeige. Ich fragte mich, ob ihre Familie je Erdnussbutter oder Marmelade zu sehen bekommen hatte, oder was sie von Hühnerragout Country-Art hielten. Mir kam der Gedanke, was sie für ein düsteres Bild vom American way of life gewinnen mussten: ein M249 und das schnellste und schlechteste Essen der Welt.

Wenn ich in der Folgezeit Dienst am Kran­kenhaus hatte, nahm ich immer einen kleinen Vorrat Einmannpackungen mit, damit ich ihr zwei geben konnte.

Das Mädchen rannte immer damit nach Hause. Nie ging sie. Es war, als ob Rennen die einzige Geschwindigkeit war, die sie kannte. Es war egal, ob es in der Nachmittagssonne fünfzig Grad heiß war. Wenn die Kleine sich bewegte, rannte sie. Es machte mich glücklich, sie auf ihren leichten braunen Beinen über die Straße fliegen zu sehen.

Ich fragte mich, was für ein Leben sie führen würde, wenn der Krieg zu Ende war. Würde sie wieder zur Schule gehen? Würde sie am Ende sogar Ärztin oder Lehrerin werden?

Ihre Besuche hellten meine Tage vor dem Krankenhaus auf, und sie war der einzige Mensch im Irak, dessen Lächeln mir etwas bedeutete. Seit meiner frühesten Kindheit misstraue ich dem Lächeln von Erwachsenen: Stets fragte ich mich, ob sie dahinter etwas verbargen. Das Lächeln dieses Kindes in Ramadi dagegen ließ mich an meine Frau und meine Kinder denken. Ich wünsch­te, Brandi könnte die Kleine sehen und erkennen, was ich mittlerweile wusste: Es stimmte nicht, dass alle Muslime Terroristen sind, Kinder eingeschlossen. In Wahrheit war dieses kleine Mädchen wie jedes Kind, das in Oklahoma, Colorado oder in jedem anderen Teil der Welt aufwuchs: Es brauchte etwas zu essen, ein bisschen Bildung, sauberes Wasser und liebende Eltern, die sich um sie kümmerten. Sie war keine Terroristin. Sie war einfach nur ein Mädchen, und alles an ihr – die schlenkernden Arme, das ungekämmte Haar, die zerrissenen Sandalen – rief mir in Erinnerung, dass sie und ihre Familie die gleichen Bedürfnisse hatten wie ich. Alles, was sie wollten, war Nahrung, Unterkunft, Sicherheit, Schule und Arbeit – und wer wollte das nicht?

Ich war nicht der einzige Soldat unseres Trupps, der dem Mädchen Rationen abgab. Sykora tat es mir gleich, und wir unterhielten uns oft über sie.

»Heute hab ich das Mädchen wieder gesehen, als ich vor dem Krankenhaus stand«, sagte Sykora dann.

»Hast du ihr was gegeben?«, fragte ich.

»Na klar«, sagte er. »Rindfleischeintopf und eine Flasche Wasser.«

Nach und nach fiel mir bei ihren Besuchen das eine oder andere an ihr auf. Sie hinkte ein bisschen beim Rennen. Jedes Mal, wenn sie kam, warf ich ihr ein oder zwei Einmann­packungen zu und sagte: »Da, Schwesterchen. Jetzt musst du aber weg hier. Geh jetzt. Bleib nicht hier stehen. Geh nach Hause.«

Ich wollte nicht, dass sie sich länger aufhielt, weil mir Lieutenant Joyce jedes Mal, wenn er sah, dass ich ihr etwas gab, Fraternisierung mit dem Feind vorwarf. Wenn sie zu lange am Zaun stand, warf ich Bonbons – Werther’s und Starburst zum Beispiel – mög­lichst weit weg, um sie in Sicherheit zu brin­gen.

Bei den Einmannpackungen gab ich ihr von allem, was wir bekamen, auch Hühner-Salsa und Beefsteak. Ich fand, dass alles wie Hundefutter schmeckte, aber zur Not hielt es einen über Wasser, und das kleine Mädchen und seine Familie brauchten es nötiger als ich. Wenn ich ihr das Essen gab, lächelte sie immer, verbeugte sich leicht, drehte sich um und rannte nach Hause.

Als wir nach unserer Dienstzeit in Falludscha zurück in Ramadi waren, erkannte mich das Mädchen gleich wieder, wie ich da auf meinem Stein an einer Ecke des Zauns saß. Erneut kam sie jeden Tag angerannt.

Eines Tages brachte sie mir ein Stück Brot. Als sie es mir über den Zaun reichte, merkte ich, dass es noch warm war.

»Frisch gebacken?«, fragte ich.

Sie lächelte und wartete, dass ich es aß.

Es war ein Fladenbrot und schmeckte phantastisch. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis ich alles gegessen hatte.

»Danke schön«, sagte ich.

Am nächsten Tag brachte sie mir ein Glas Wasser.

Ich vermutete, dass es direkt aus dem Euphrat kam, doch ihr zuliebe trank ich es in einem Zug aus. Es schmeckte grauenhaft, aber für sie tat ich das gern.

Danach war ich ein paar Tage mit Hausdurchsuchungen beschäftigt und stellte fest, dass ich mich schon auf den Wachdienst vor dem Krankenhaus freute, weil ich dann das kleine Mädchen wiedersehen würde.

In der darauffolgenden Woche stand ich wieder auf meinem Posten vor dem Krankenhaus und sah, wie das Mädchen aus dem Haus rannte, über die Straße und auf den Zaun zu, der zwischen uns stand. Ich griff nach einer Einmannpackung in meiner Tasche, und als ich aufblickte, sah ich sie drei Meter vor mir, hörte Schüsse aus einem halbautomatischen Gewehr und sah ihren Kopf platzen wie einen Pilz.

Ihr Tod kam so plötzlich und war ein solcher Schock für mich, dass ich nicht glauben konnte, was ich da sah. Es waren keine bewaffneten Iraker zu sehen, und ich hatte auch nicht das stetige Knattern eines irakischen AK47 gehört. Vielmehr war deutlich das Geräusch eines M16 zu hören gewesen, das kein lautes anhaltendes Schussgeräusch macht. Es ist leiser als das AK47 und gibt nur zwei oder drei Schüsse pro Feuerstoß ab. Pop pop pop. Pause. Pop pop pop. Pause.

Ich sah mich nach allen Richtungen um. Bewaffnet waren in meiner Umgebung nur meine Truppkameraden, die an verschiedenen Punkten um und auf dem Krankenhaus postiert waren. Meine eigenen Leute waren die einzigen Bewaffneten, und es war das Geräusch eines ihrer Gewehre gewesen, das ich gehört hatte, ehe mein Schwes­terchen zu Boden ging.

Ich sah, wie ihre Mutter aus der Tür stürzte und über die Straße rannte. Sie und jemand aus der Familie knieten über dem Leichnam. Sie starrten mich an, und ich konnte nichts sagen und nichts tun, als beschämt den Kopf zu senken, während die Familie ihr Kind mitnahm.

Ich kann mir nicht helfen: Bis heute glaube ich, dass einer meiner eigenen Leute sie umbrachte. Ich fühle mich verantwortlich für ihren Tod. Wenn ich ihm nicht immer wieder etwas zu essen gegeben und so das Gefühl vermittelt hätte, dass es sicher war, jeden Tag zu mir zu kommen, »Mister! Essen!« zu sagen und die Einmannpackungen von mir entgegenzunehmen, dann wäre das Kind vielleicht noch am Leben. Sie wäre jetzt wohl zehn Jahre, etwa so alt wie mein ältes­ter Sohn Zackary.

Ihr Tod verfolgt mich bis heute. Ich versuche, damit leben zu lernen.