John Pilger über Bushs Irak-Besetzung

"Die eignen Worte straften ihre Propaganda Lügen"

John Pilger ist ein erfahrener Journalist ("Guardian") und Dokumentarfilmer. Seine Karriere überspannt mehr als drei Jahrzehnte. Er hat von den Tatorten einiger der fürchterlichsten Kriegsverbrechen der US-Regierung berichtet - von Vietnam und Südostasien über die vom Südafrika der Apartheid angegriffenen Frontstaaten bis hin zu Palästina und Irak im Nahen Osten.

In seinem neuen Dokumentarfilm Breaking the Silence: Truth and Lies in the War on Terror zertrümmert Pilger die Begründung für den Krieg gegen den Irak, die George W. Bush und der britische Premierminister Tony Blair geliefert hatten. Insbesondere veröffentlichte Pilger Videomaterial von 2001, auf dem Außenminister Colin Powell und die nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice die Wahrheit zugeben: Irak stellte keine militärische Bedrohung dar und hatte seit dem ersten Golfkrieg zehn Jahre zuvor keine Massenvernichtungswaffen entwickelt. Der Dokumentarfilm wurde erstmalig im September im britischen Fernsehen gezeigt. Pilgers neustes Buch The New Rulers of the World ist eine Essaysammlung, die aktualisiert und erweitert wurde um Beiträge zu Bushs "Krieg gegen den Terror".

Pilger sprach mit Anthony Arnove vom Socialist Worker - online am 21. November 2003 - über die Kriegsgründe der USA und darüber, warum die Kolonialbesatzung in einer Krise ist.

? In Ihrem neuen Dokumentarfilm legen Sie Beweise dafür vor, daß Colin Powell und Condoleezza Rice wußten, daß der Irak keine Gefahr darstellte. Können Sie diese Beweise schildern?

Die Beweise liegen in deren eigenen Worten vor. Ich entdeckte einiges ungewöhnliche Archivmaterial unter den stundenlangen Erklärungen der Bush-Bande, die ich für Breaking the Silence herangezogen hatte.

Powell sagte in Kairo am 24. Februar 2001: "Er [Saddam Hussein] hat bedeutende Fähigkeiten, was Massenvernichtungswaffen anlangt, nicht entwickelt. Er ist außer Stande, mit konventionellen Waffen gegen seine Nachbarn vorzugehen." Das ist natürlich das genaue Gegenteil von dem, was Bush und Blair ihren Völkern erzählt haben.

Powell prahlte sogar damit, daß es die US-amerikanische "Eindämmungspolitk" war, die den irakischen Diktator entwaffnet habe - abermals das Gegenteil von dem, was Bush und Blair immer wieder gesagt haben. Am 15. Mai 2001 ging Powell weiter und sagte, Saddam Hussein sei "in den letzten 10 Jahen" nicht in der Lage gewesen, "seine Armee wieder aufzubauen oder Massenvernichtungswaffen zu entwickeln". Amerika, sagte er, habe Saddam "unter dem Deckel" halten können.

Zwei Monate später schilderte Condoleezza Rice einen schwachen, gespaltenen und militärisch wehrlosen Irak. "Saddam beherrscht den Norden seines Landes nicht", sagte sie. "Wir richten uns darauf aus, seine Waffen von ihm fern zu halten. Seine Armee ist nicht wieder aufgebaut worden."

Da gab es also zwei der wichtigsten Bush-Mitarbeiter, deren eigene Worte sie bei ihrer Propaganda Lügen straften.

? Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, wie hält da Tony Blairs "Dossier" über irakische Massenvernichtungswaffen einer Überprüfung stand?

Es ist eine Lachnummer. Teile davon waren ein Plagiat einer amerikanischen Doktorarbeit. Sogar die Schreibfehler waren übernommen, und Begriffe wie "oppositionelle Gruppen" waren ersetzt durch "Terroristengruppen". Das ist wirklich schlecht gelogen. Der Rest des Dossiers wurde von den Blairschen höheren Geheimdienstlern widerlegt, darunter sein eigener Stabschef, und zwar bei Auftritten vor der Hutton-Kommission.

? Haben Sie irgendeine Bestätigung für die Behauptung gefunden, daß der Irak mit Al Kaida in Verbindung steht?

Keine. Tatsächlich sind meine beiden besten Quellen dafür der Präsident der Vereinigten Staaten und sein Verteidigungsminister, die beide innerhalb weniger Tage im September die bloße Vorstelung zurückwiesen, Irak und Al Kaida seien verknüpft. So weit geht ihr Zynismus. Die Nation und die Welt belügen, sodaß die Mehrzahl der Amerikaner daran glaubt, und dann es ruhig zurückweisen. Unter Berücksichtigung aller Berichte gibt es selbst heute keinen Beweis dafür, daß Al Kaida im Irak ist. Sie könnten da sein, aber wie bei den Massenvernichtungswaffen gibt es keinen Beweis dafür.

? Was meinen Sie zur Behauptung der Bush-Regierung, daß der Widerstand gegen die Besatzung im Irak von "ausländischen Terroristen" stammt?

Das klingt wie Ironie, wenn amerikanische Amtsträger von "ausländischen Kämpfern" sprechen, die Amerikaner angreifen! Als wären Amerikaner Iraker, oder als gäbe es keine Iraker.

Wie Robert Fisk hervorgehoben hat, gibt es 200 000 ausländische Kämpfer im Irak, davon tragen 146 000 US-Uniformen. Es könnte durchaus weitere ausländische Kämpfer im Irak geben. Die anglo-amerikanische Invasion war ein Angriff auf die arabische Welt, ich wäre also nicht überrascht über einen ad-hoc-panarabischen Widerstand. Die französische Résistance hatte ausländische Unterstützer, namentlich Briten, und es passierten schreckliche Dinge. Da gibt es keinen Unterschied. Die jetzige Propaganda zielt darauf, die Wahrheit eines nationalistischen Widerstands zu verschleiern.

Ob man es mag oder nicht, für viele Iraker verkörperte Saddam Hussein einen gewissen Nationalismus, und die sogenannten "Saddam-Überbleibsel" sind Nationalisten. Es handelt sich um eine durchaus nationalstolze Gesellschaft. Sie ist nicht so tief in Stämme gespalten, wie uns manche westlichen Kommentatoren glauben machen wollen.

Die Besatzung hat Ähnlichkeit mit Vietnam, aber die größte Ähnlichkeit besteht mit dem sowjetischen Desaster in Afghanistan. Und das hat wirklich noch nicht ernsthaft begonnen. Das passiert, wenn die Schiiten loslegen.

Ich denke, daß sich langsam eine schiitische Armee bildet. Die Schiiten haben eine Tradition der Geduld, und sie warten, bis ihre Zeit kommt, so, wie sie es unter dem persischen Schah getan haben. Die Besatzung und Bush sind in großen Schwierigkeiten.

? Warum, denken Sie, hat die Konzernpresse, besonders in den USA, so lange gebraucht, um über die Tatsache der Täuschung und Verfälschung durch die Regierung zu berichten?

Die Konzernpresse ist der verlängerte Arm des Staats. Das ist eine Binsenweisheit, die kaum je in Journalistenschulen gelehrt wird. Schauen Sie zurück auf die McCarthy-Ära, lesen Sie die Zeitungen, hören Sie in die Schallarchive hinein. Mit ehrenwerten Ausnahmen ist das ein frappierender Widerhall von heute. Die meiste Zeit seines Aufstiegs über wurde McCarthys Galle von den Mainstream-Medien weitergeleitet und verstärkt.

Sogar der große Edward R. Murrow wartete bis 1954, bevor er McCarthy anprangerte, der da gerade anfing zu verblassen. Erst als McCarthy völlig durchdrehte und behauptete, das US-Militär sei von Kummunisten durchsetzt, scheiterte er, und nicht dank der Medien.

Jetzt, im 21. Jahrhundert, schlugen die Medien falschen Alarm wegen des Extemismus. Charles Lewis, Vorsitzender des Center for Public Integrity und ehemaliger CBS-Journalist, erzählte mir, er denke, daß die Invasion wohl nicht passiert wäre, wenn die Medien Bushs Betrug aufgegriffen hätten. Er wäre bloßgelegt und die Invasion unhaltbar geworden. Ich teile diese Meinung.

Die potentielle Macht der Journalisten besteht darin, sich für die Wahrheit und das Volk einzusetzen, nicht für Propaganda und Herrschaft. Es ist an der Zeit, daß Journalisten, die ihr Handwerk ernst nehmen, ihr Gewissen prüfen und aufhören zu versuchen, ihren Verstand und ihre Moral zu verbiegen um des Arbeitsplatzes willen.

? Wenn Massenvernichtungswaffen und Verbindungen zu Al Kaida betrügerische Rechtfertigungen für die Irakinvasion waren, was war dann das wahre Motiv?

Es ging um Öl natürlich und um die unmittelbare Beherrschung des Nahen Ostens. Saudi-Aabien, Amerikas Bevollmächtigter, ist heutzutage unzuverlässig. Die USA wollten den Irak, ein ganzes Land, als Basis, ebenso wie sein Öl. Lesen Sie die wichtigsten Berichte, die Bush und Dick Cheney bald nach ihrem Amtsantritt durchgesehen haben. Ein Council-on-Foreign- Relations-Bericht verblüfft durch seine Warnungen, indem er im Endeffekt behauptet: "Handelt jetzt und nehmt das Öl, bevor es alle ist oder China es sich holt."

Die Invasion war auch das, was Alexander Haig einen "Vorzeigekrieg" nannte. Sie führte die schiere Habgier der Bush-Extemisten vor und ihre Entschlossenheit, der Menschheit ihre Brandmarke des Kapitalismus aufzudrücken. Sie enthielt eine Botschaft: "Paßt auf, ihr könntet die nächsten sein."

? Wie steht es um die Lebensbedingungen der Iraker?

Ich persönlich kann nicht sagen, wie die Bedingugen sind. Aber Freunde dort erzählen mir, daß es, wie einer schrieb, "eine Hölle ist, die wir nie erwartet hatten." Ein Institut in Bagdad hat die erste glaubwürdige Umfrage seit der Invasion gemacht und herausgefunden, daß die Mehrheit der Iraker glaubt, daß die Lage für normale Leute schlimmer ist als unter Saddam Hussein.

Auf jeden Fall gibt es mehr Gefangene - mindestens 4 000 wurden eingesperrt, möglicherweise viel mehr. Es gibt Kollektivstrafen, Folter, Verstöße gegen jedes international verbriefte Recht. Die Amnesty-International-Berichte darüber könnten von irgendeinem totalitären Staat handeln.

? Sie haben kürzlich das Nachkriegs-Afghanistan besucht. Was können wir von den Bedingungen dort für die Besatzung des Irak lernen?

Wir können daraus lernen, daß Amerika die unbesteitbare Fähigkeit hat, schwache und meist wehrlose Länder zu schlagen, aber daß es fast überhaupt nicht in der Lage ist, sie nachher unmittelbar zu beherrschen. In Afghanistan haben sich die Amerikaner in die Airbase von Bagram verkrochen. Das erinnert mich an die Festung von Pleiku in Vietnam.

Sie sind umgeben von Mißtrauen und Feindschaft, und sie haben kein Inteesse daran zu versuchen, die Art von kolonialer Situation herzustellen, die es den Briten erlaubte, ganze Völker mit nur ein paar Soldaten zu beherrschen. Ich denke, die USA werden aus dem Irak vertrieben werden, und die Folgen werden für Bush so ernst sein wie es Vietnam für den Präsidenten Lyndon Johnson war.

? Wie werden die USA mit der gegenwärtigen Krise umgehen? Glauben Sie, daß sie versuchen werden, wieder die Initiative zu ergreifen?

Amerika hat die materielle Kraft und die Feuerkraft, also ist das möglich. Aber es wäre künstlich und kurzlebig.

? Was, meinen Sie, sollte für die Antikriegsbewegung die größte Priorität haben?

Direkte Massenaktionen, wie klein auch immer. In jeder kleinen Stadt und jedem Wohnblock müssen sich Stimmen erheben und Leute bereit sein, alle Risiken zivilen Ungehorsams auf sich zu nehmen.

Tut auf amerikanischer Bühne, was das bolivianische Volk kürzlich in seinem kleinen verarmten Land getan hat, wo sie einen Präsidenten gestürzt haben. Gewinnt an Schwung. Setzt euch mit den Familien von GIs in Verbindung, die im Irak Dienst tun oder die getötet oder verwundet wurden.

Denkt daran, die Antikriegsbewegung ist die demokratische Opposition. Heute gibt es keine andere. Was ansteht und was zu tun ist, liegt heute klarer zu Tage, als ich mich je erinnern kann.

Übersetzung: Thomas Immanuel Steinberg

Originaltext: http://www.socialistworker.org/2003-2/477/477_05_Pilger.shtml gespiegelt unter http://www.counterpunch.org