Drohende Zersetzung

USA: Ehemalige Militärs und Politiker sehen Risiko für Streitkräfte durch fortgesetzte Kriege in Irak und Afghanistan. Verklausulierte Warnung vor Feldzug gegen Iran
Von Rainer Rupp

junge Welt, 27.01.2006 / Ausland / Seite 7
http://www.jungewelt.de/2006/01-27/016.php

Die US-Army und das Marine Corps könnten das derzeit herrschende Tempo der Militäraktionen im Irak und Afghanistan nicht unbegrenzt durchhalten, ohne dauerhaften Schaden zu nehmen. Das ist die Quintessenz eines Berichtes, den eine Gruppe von hochrangigen ehemaligen Politikern und Militärs unter Vorsitz von William Perry, der von 1994 bis 1997 unter US-Präsident William Clinton Chef des Pentagon gewesen war, am Mittwoch in Washington der Presse vorgestellt hat. Durch die Einsätze seien die Bodenstreitkräfte des US-Militärs dermaßen stark gefordert, daß »potentielle Gegner« versucht sein könnten, die USA herauszufordern.

»Wenn der Druck nicht nachläßt, wird das sehr zersetzende, langfristige Auswirkungen auf unser Militär haben«, warnte Perry, unterstützt von Politikern wie der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und Clintons Nationalem Sicherheitsberater Sandy Berger. Mitgearbeitet an der Studie hatten unter anderem auch der frühere Chef der Vereinigten Stabschefs, General John Shalikashvili, und NATO-Oberbefehlshaber General Wesley Clark.

Trotz gegenteiliger Erklärungen des Pentagon warnt der Bericht vor der sich abzeichnenden Personalkrise in der US-Army. Während die Rekrutierungsziele mit zunehmend größeren Margen verfehlt werden, verlassen immer mehr Soldaten die Streitkräfte oder die Reserve, sobald ihr Freiwilligenvertrag das erlaubt. Zugleich hat sich in der Armee nach fast vier Jahren Krieg der Verschleiß an Waffen und Geräten bemerkbar gemacht. So bemängelt der Bericht unzureichende Ausrüstung und Schutz für die an der Front eingesetzten US-Soldaten und wirft der Administration von US-Präsident George Bush vor, »das Vertrauensverhältnis zu den amerikanischen Soldaten und zur Marine gebrochen« zu haben. Zusammengenommen ergäben die gemachten Fehler und Mängel »das reelle Risiko eines Zusammenbruchs der Streitkräfte«, heißt es in dem Bericht weiter.

Der kommt sicher nicht von ungefähr zu einer Zeit, in der alle Welt über ein neues US-Kriegsabenteuer gegen Iran spekuliert. Selbst wenn ein US-Angriff gegen die iranischen Atomanlagen ausschließlich durch die Luftwaffe geführt würde, so müßten die US-Bodentruppen sofort mit vermehrten Kampfhandlungen rechnen, sowohl in Irak als auch entlang der Grenze zu Iran. Mullah Al Sadr, der den Amerikanern mit seiner Mahdi-Armee schon etliche Schlachten lieferte, hat bereits erklärt, er werde Iran »mit Angriffen gegen die USA in Irak« verteidigen. Zugleich muß das Pentagon damit rechnen, daß US-Truppen auch entlang der langen iranisch-irakischen Grenze vermehrt in einen Kleinkrieg hineingezogen werden. Dabei dürfte es Ziel der Iraner sein, durch ständige Nadelstiche die US-Truppen auf iranisches Territorium und tiefer ins Land zu locken. Dort würden die Amerikaner auf einen ähnlich entschlossenen Widerstand stoßen wie derzeit im sogenannten sunnitischen Dreieck im Irak. Nur, daß dieses Areal im Iran um ein Vielfaches größer wäre. Vor diesem Hintergrund kann der jetzt vom ehemaligen Pentagon-Chef Perry vorgelegte Bericht nur als eine ernste, wenn auch verklausulierten Warnung an die Bush-Administration verstanden werden, vor weiteren Kriegsabenteuern abzusehen – vorerst jedenfalls.