DIE ZEIT, 42/2003

"Die Amerikaner sind Barbaren"

Im Irak wird der bewaffnete Widerstand gegen die US-Soldaten populär. Jetzt fehlt nur noch, dass nationalistische Sunniten und radikale Schiieten gemeinsame Sache machen

Von Ulrich Ladurner

Wenn Alis Mutter sich an die guten Zeiten ihres Lebens erinnert, denkt sie an Saddam Husseins Diktatur. Damals lebte ihr Sohn noch. Ali pendelte als Lastwagenfahrer zwischen Bagdad und dem jordanischen Rotmeerhafen Aqkaba hin und her. Sein Einkommen war nicht schlecht, und er verdiente sich mit der einen oder anderen geschmuggelten Ware etwas hinzu. Der Irak stand unter UN-Embargo. Für Ali war dies eine Chance, denn sein Vater war durch eine Herzschwäche arbeitsunfähig geworden. Ali musste allein für alle sorgen, für die Mutter, die drei Schwestern und den kranken Vater. Es gelang ihm gut. Die Familie mietete ein Haus in al-Saleh, einem besseren Viertel Bagdads. Sie lebte in bescheidenem Wohlstand.

Das ist nun vorbei. Alis Bild hängt hoch oben an einer Ecke des Wohnzimmers. Ein junger, ernst dreinblickender Mann. Unter dem Foto sitzt seine Mutter, Umm Ali, ganz grau im Gesicht, weil sie unter einer Dysfunktion der Nieren leidet und weil sie um ihren Sohn trauert. Ali ist am 7. August dieses Jahres vor seinem Haus erschossen worden. Amerikanische Soldaten stürmten an diesem Tag das Nachbarhaus an der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war knapp neun Uhr abends. Es war dunkel. Die GIs hatten die Straße nicht abgesperrt. Ali fuhr nichts ahnend vorbei, gleichzeitig passierten zwei weitere Wagen die Amerikaner, alle Insassen waren auf dem Weg nach Hause. Die Soldaten schossen ohne Vorwarnung. Ali war auf der Stelle tot, zwei junge Männer verbrannten in ihrem Auto, und in dem dritten Wagen kamen zwei Kinder, ihr Vater und ihr Großvater ums Leben, nur die hochschwangere Mutter überlebte. Die Soldaten zogen ab, ohne sich um die Opfer zu kümmern. Sie fürchteten wahrscheinlich, von Feinden umzingelt zu sein.

Die Geschichte vom Blutbad in al-Saleh führt mitten hinein in das Herz der befreiten Iraker. Sie erzählt von einer erstaunlichen Wandlung, an deren Anfang die Freude über den Sturz des Diktators steht und an deren Ende seine Wiedergeburt als Held der Nation stehen könnte. Alis Mutter hat keinen Zweifel: „Zu Saddams Zeiten lebten wir besser.“

Es wäre ungerecht, die um ihren Sohn trauernde Mutter als Anhängerin des Diktators zu bezeichnen. Sie war es jedenfalls nicht, als er noch herrschte. Umm Ali ist Schiitin, sie gehört somit der von Saddam Hussein unterdrückten Religionsrichtung an; keines ihrer Familienmitglieder war nach ihren Aussagen ein Mitglied der Baath-Partei. Trotzdem führten sie ein relativ ordentliches, ein geschütztes Leben. Dafür gab es Spielraum, auch in Zeiten der Diktatur.

Zieht Umm Ali nach sechs Monaten Besetzung Bilanz, dann denkt sie: Was hat es uns gebracht? Mir, meinen Kindern, meinen Brüdern, Schwestern, den Nichten, Neffen, Cousins, Onkeln und Tanten? „Nichts, keiner von uns hat Arbeit. Mein Sohn ist tot. Einer meiner Cousins war Pilot. Die Armee gibt es nicht mehr. Ein anderer war Tischler in einer Fabrik. Die Fabrik ist stillgelegt. Zwei Neffen arbeiteten für ein Fuhrunternehmen, beide sind jetzt arbeitslos.“

Umm Alis Leben ist beschwerlich geworden. „Wir haben immer noch keinen Strom in al-Saleh, fließendes Wasser nur für ein paar Stunden am Tag, die Preise sind emporgeschnellt. Es gibt keine Sicherheit auf den Straßen. Wir leben in Angst. Wir sind schutzlos.“ Ihr Blick richtet sich daher in die Vergangenheit: „Unter Saddam gab es das nicht.“

Umm Ali misst die Freiheit an kleinen Dingen, da mag der amerikanische Präsident noch so pathetisch von ihr sprechen. Seine Botschaft wird vor Umm Alis Familienhorizont zur Floskel. Zu Recht erwähnen die Besatzer die Massengräber, die Folter, all die Verletzungen der Menschenrechte. Das ist vorbei: Umm Ali ist froh darüber, doch das Gedächtnis ist kurz für jemanden, der vor allem damit beschäftigt ist, den Alltag zu bewältigen. Ohne mit der Wimper zu zucken, sagt Umm Ali über die Widerstandsbewegung, die fast täglich Opfer unter den US-Soldaten fordert: „Wir unterstützen sie mit unseren Herzen und in unseren Gefühlen.“ In ihrem Haus jedenfalls haben die Besatzer die alles entscheidende und viel beschworene Schlacht um Herzen und Köpfe schon verloren. „Wir wollen einen Führer, der aus dem Inneren des Iraks kommt. Einen von uns!“

Das Innere Iraks. Was spielt sich dort ab? Und wo liegt das überhaupt?

Zum Beispiel in dem Dorf al-Sijra, rund siebzig Kilometer westlich von Bagdad. Die Einwohner gehören zu dem Stamm der al-Dschumaili, ein paar Dutzend Menschen leben hier, verteilt auf mehrere Häuser, die durch eine Lehmmauer von den Äckern getrennt sind. Die al-Dschumailis bearbeiten das Land, sie halten Kühe und verkaufen die Frucht ihrer Arbeit auf dem Markt. Der Clan, der Stamm, das sind die bestimmenden Größen, und der sunnitische Islam ist der Boden, auf dem sie alle stehen. Die Menschen von al-Sijra haben die Invasoren niemals mit Gefallen betrachtet, aber sie haben sich rausgehalten, so gut es eben ging, genauso, wie sie sich zu Zeiten Saddam Husseins möglichst ferngehalten haben von den schrecklichen Launen des Diktators.

Am 23. September um zwei Uhr nachts war es damit vorbei. Amerikanische Soldaten umstellten das Dorf. Zwei Panzer fuhren auf. Ein Flugzeug donnerte über die Lehmhäuser und feuerte sechs Raketen. Vier landeten auf einem nahe gelegenen Acker, zwei im gemeinsamen Innenhof der Häuser. Drei Angehörige des Clans starben auf der Stelle, ein Haus wurde schwer beschädigt. Die Soldaten stürmten die Häuser, durchsuchten sie nach Waffen und zogen wieder ab, berichtet Clanchef Abu Mohammed. „Sie haben nichts gefunden.“ Auf die Frage, wie er sich den Angriff erklärt, sagt er: „Ich weiß es nicht. Wir haben niemandem etwas getan. Die Amerikaner sind Barbaren. Sie schauen auf uns herab wie auf Tiere.“

Der Angriff auf al-Sijra, hieß es später vonseiten der Besatzer, war ein Fehler gewesen. Die US-Armee hatte im Dorf Widerstandskämpfer vermutet. Der Verdacht lag nahe. Denn al-Sijra liegt nur einen Kilometer von der Autobahn Bagdad–Amman entfernt. Auf der anderen Seite der Straße erstreckt sich die Stadt Falludschah, ein Zentrum des bewaffneten Widerstandes. Und al-Sijra kam unter Feuer, weil es keinen klar definierten Feind gibt, weil der Angreifer auftaucht und wieder verschwindet, vielleicht irgendwo in dem Schilf, das an den Kanälen rund um al-Sijra dicht und hoch wächst. Ein US-Offizier fasst diese Lage in einfachen Worten zusammen: „Das Problem ist: Es gibt hier keine Frontlinie.“ 5000 Iraker halten die Amerikaner inzwischen unter „Terrorismusverdacht“ fest, die Angriffe hat das nicht gestoppt, auch hat es keine Einsichten in die Struktur der Widerstandsbewegung vermittelt. Die Besatzer tappen im Dunkeln, weil die Bevölkerung nicht kooperiert. Fragt man nach dem Warum, findet man in al-Sijra Antworten.

Die drei Toten sind inzwischen begraben. Aus den umliegenden Dörfern kommen noch immer Dutzende von Menschen, um ihr Beileid auszudrücken. Die Männer versammeln sich unter einem Zelt, das sie vor der brennenden Sonne schützt. Sie trinken Kaffee und tauschen die Neuigkeiten aus. Man ist misstrauisch hier, aus guten Gründen. „Wenn wir sagen, dass wir den bewaffneten Widerstand unterstützen“, sagt Abu Mohammed, „dann geben wir die Rechtfertigung für einen weiteren Angriff.“ Es dauert also eine Weile, bis Abu Mohammed unter dem zustimmenden Nicken der Anwesenden sagt: „Ja, unsere Gefühle sind bei Widerständlern. Aber wir unterstützen sie nicht mit Taten.“

Die Waffen sind das eine, die Politik ist das andere. Wenn man darauf zu sprechen kommt, dann sind die Trauergäste sehr offen. „Unter Saddam war es besser, viel besser!“ Sie sprechen allerdings nicht wie Umm Ali von der Sicherheit, die zu Zeiten Saddam Husseins angeblich geherrscht hat. Sie meinen etwas anderes, wenn sie ihn als Führer wiederentdecken. Wenn Abu Mohammed über die Amerikaner sagt, dass sie „auf uns wie Tiere schauen“, spricht er von seinem verletzten Stolz, als Iraker und als Muslim. Von seiner Erniedrigung, die gleichzeitig die Erniedrigung seines Clans ist. Aus dieser Perspektive erscheint Saddam Hussein nicht in erster Linie als Diktator, sondern als der Mann, der die Würde der irakischen Nation verteidigt.

So eigenartig es klingen mag, Iraker wie Abu Mohammed dürsten nach jemandem, der noch in ihrer Niederlage ihre Ehre verteidigt. Für Saddam Hussein gibt es in diesem Sinne keinen Ersatz. Keines der Mitglieder der provisorischen Regierung des Iraks hat die Rolle des Anwaltes der irakischen Nation übernommen – zu sehr hängen sie am Gängelband der USA, zu wenig sind sie im eigenen Land verwurzelt, und viel zu oft erwecken sie den Eindruck, dass es ihnen um die Macht gehe und nicht um das Wohl der eigenen Nation.

Clanchefs wie Abu Mohammed bleiben wenige Möglichkeiten, ihre Würde zu verteidigen. Auf die Frage, ob er einen Gesandten der Amerikaner empfangen würde, der sich für den Vorfall entschuldigen und Kompensation zahlen möchte, antwortet er mit zornigen Worten: „Ich würde es ablehnen. Warum sollen wir sie empfangen?!“

Der Wiederaufbau des Landes zielt genau darauf, dass die Iraker sich von den Resultaten der Besetzung überzeugen lassen, wenn sie sehen, dass ihre Straßen wiederhergestellt sind, ihre Schulen wieder öffnen, ihre Fabriken wieder arbeiten. Wohlstand soll die nationale Schmach vergessen machen, das ist die Politik der USA. Aber selbst wenn die Segnungen der Besatzung eines Tages in al-Sijra spürbar werden sollten, wird es zu spät sein. Die Befriedigung materieller Bedürfnisse genügt nicht mehr, um die Seele dieser Menschen zu besänftigen. Sollte es je ein Band zwischen al-Sijra und den Besatzungsmächten gegeben haben, ist es am 23. September endgültig gerissen. Männer wie Abu Mohammed suchen jetzt nach einem, der ihnen zurückgibt, was sie verloren haben: den Respekt der anderen.

Abu Mohammeds Blick mag sich auf das benachbarte Falludschah richten, das Zentrum des Widerstandes. Dort sähe er dann ein widersprüchliches Bild. Die Guerilla ist militärisch zwar in dem Sinne erfolgreich, dass sie den Amerikanern großen Schaden zufügt. Aber politisch ist sie schwach. Sie hat keine Führungsfiguren. Keiner setzt die Sprache der Waffen in Politik um – es bleibt allein Saddam Hussein als Symbol.

Auch deshalb bezeichnet die US-Verwaltung die Widerständler als Saddam-Hussein-Loyalisten oder Al-Qaida-Terroristen. Ein einflussreicher Mann aus Falludschah namens Mustafa widerspricht: „Diese Stadt war immer gegen Saddam. Auch wenn Sie Menschen sehen, die Saddams Bild hochhalten, wenn wieder ein Konvoi getroffen worden ist. Die Widerständler machen nur das Natürlichste auf der Welt. Sie kämpfen gegen die Besatzer.“ So gesehen, sind die USA die Ursache des Problems und nicht die Lösung.

Der Widerstand ist mit Sicherheit eine Reaktion auf lokale Ereignisse. In Falludschah begann er am 18. April. An diesem Tag erschossen amerikanische Soldaten 18 demonstrierende Bürger. In die gewalttätige Reaktion auf dieses Massaker mischte sich von Beginn an eine Reihe „unpolitischer“ Elemente, gewöhnlicher Krimineller, Abenteurer. Die Motive der Kämpfenden sind vielfältig und fügen sich trotzdem in einen größeren Rahmen, in den des Islams und des Iraks. „Diese Leute verteidigen ihre Religion, und sie verteidigen ihre Heimat,“ sagt Mustafa und ist ganz erstaunt darüber, dass die USA das nicht verstehen können. Für Mustafa reicht die Besatzung, um die Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. Es gibt für ihn auch keinen Zweifel darüber, dass der Widerstand sich nicht auf die sunnitischen Regionen des Landes begrenzen wird. „Die Trennung zwischen Schiiten und Sunniten ist nur ein Keil, den die Amerikaner zwischen uns treiben wollen, um uns zu beherrschen. Aber Sie werden sehen, in einem Jahr bewegen sich auch die Schiiten.“

Ob sich die Schiiten auflehnen werden, das wird in Nadschaf entschieden, ihrer heiligsten Stadt. Die dortigen Führer der Schiiten sind in einen inneren Machtkampf verwickelt, der sie lahm legt. Nadschaf selbst gibt in diesen Tagen das Bild dieser Lähmung ab. Die Moschee des heiligen Imams Ali ist seit dem Bombenattentat auf den schiitischen Führer Mohammed Bakr al-Hakim Ende August weiträumig abgesperrt. Das geschäftige Treiben um die Moschee ist einer seltsamen Stille gewichen, die bedrohlicher wirkt als jeder Lärm. Viele führende Mullahs sind aus der Stadt verschwunden, darunter Mukhtada al-Sadr, der radikalste unter ihnen. Nadschaf wirkt verwaist, als seien seine Bewohner in sich gekehrt, um sich auf einen großen Kampf vorzubereiten, von dem sie selbst noch nicht wissen, gegen wen er sich richten wird. Vielleicht ist das alles auch nur das Ergebnis einer Unentschiedenheit, einer Verwirrung, welche die Schiiten nach dem Sturz Saddam Husseins erfasst hat, weil Ungläubige sie von ihrem Verfolger befreit haben.

In Nadschaf geblieben, sind solche Mullahs, die ihren Ruf vor allem auf religiöses Wirken und nicht auf politische Aktivität gründen. Ajatollah Salah al-Tai ist einer jener Geistlichen, die sich in guter Tradition irakischer Schiiten vom politischen Alltagsgeschäft fern halten. Nach langen Ausführungen über den besonderen Respekt, den die Muslims gegenüber dem „Propheten Jesus“ empfänden, und über die Undankbarkeit der Christen, kommt Salah al-Tai doch auf die aktuelle Situation zu reden: „Wir haben uns nicht gegen die Besatzer gewehrt. Wir sind froh, dass die Diktatur beendet ist. Aber es ist der Westen, der den Patriotismus des irakischen Volkes herausfordert.“ Al-Tai spricht ein brisantes Thema an: die Privatisierung der irakischen Staatswirtschaft. Laut Beschluss des provisorischen Regierungskabinetts sollen mit Ausnahme von Öl und Land praktisch alle Ressourcen des Landes für Investitionen aus dem Ausland geöffnet werden. Begründet wurde dieser radikale Einschnitt mit dem Geldbedarf des zerrütteten Staates. Es versteht sich aber von selbst, dass die Schätze des Iraks unter den jetzigen Bedingungen zu Schleuderpreisen auf dem Weltmarkt verhökert werden. Kritiker sprechen von Ausverkauf.

„Wir sind gegen die Privatisierung der Wirtschaft und gegen die Globalisierung, denn sie wird unsere ohnehin schon arme Bevölkerung in noch tiefere Armut stürzen.“ Das sagt der angeblich unpolitische Geistliche al-Tai und öffnet damit ein Feld, auf dem sich alle treffen könnten, Sunniten wie Schiiten, ein Feld, das für die Iraker zum Sammelplatz für den Kampf gegen Amerika werden kann. Das klingt zwar nach Spekulation, denn bisher regt sich nichts dergleichen im Irak. Aber al-Tai sagt mit einem Lächeln: „In den zwanziger Jahren reichten wenige Worte aus Nadschaf, um die britische Kolonialherrschaft zu beenden.“ Das ist nichts anderes als eine Warnung, gewandet in ein historisches Kleid. Im Jahr 1921 brach ein Aufstand gegen die Briten aus. Die Kolonialmacht erstickte ihn im Blut. Zehntausende Araber und rund 2300 britische Soldaten fanden den Tod. Nach dieser Rebellion versuchten die Briten ihr Mandatsgebiet Mesopotamien zu befrieden, ohne die Kontrolle darüber aufzugeben. Sie schufen den Staat Irak.

Der Aufstand von 1921 war möglich geworden, weil sich schiitische Geistliche wie sunnitische Nationalisten darauf geeinigt hatten, einen unabhängigen islamisch-arabischen Staat schaffen zu wollen. Es war eine vage Einigung gewesen, denn die einen strebten eine Theokratie an, die anderen einen säkularen Staat. Dieser Widerspruch wurde nie aufgelöst – aber er wurde erfolgreich überdeckt, weil Schiiten wie Sunniten die Briten zum gemeinsamen Feind hatten. Unter dem doppelten Banner des Islams und der Nation sammelten sich beide religiösen Strömungen. Diese Möglichkeit besteht heute wieder. Al-Tai beschreibt ziemlich genau, wann für ihn als Schiit die Geduld am Ende sein wird: „Der Westen will eine Trennung von Religion und Politik einführen. Das wird scheitern!“ Die Bereitschaft des Ajatollahs, die Schleusen für einen Massenprotest zu öffnen, ist unübersehbar. Die Fähigkeit auch, denn die Ajatollahs aus Nadschaf haben großen Einfluss auf Hunderttausende Schiiten.

Irakische Nationalisten glauben, dass die Amerikaner diese Gefahr erkannt haben und dass sie deshalb die Sunniten und Schiiten mit allen Kräften zu spalten versuchten. Viele dieser Nationalisten hatten ihre Heimat in der Baath-Partei Saddam Husseins. Ibrahim Badschet etwa ist seit 1958 Parteimitglied, eingetreten mit 17 Jahren. „Man hatte in der Zeit als irakischer Patriot nur zwei Möglichkeiten. Entweder man ging zu den Kommunisten oder zur Baath.“ Die Mehrheit der Iraker empfand die damals herrschende haschemitische Monarchie als Marionette der Briten. 1958, als sich Badschet für die Baath entschied, stürzte die Revolution das Königshaus. Badschet erinnert sich an dieses Jahr wie an einen Höhepunkt des irakischen Patriotismus. Sein Leben lang versuchte er, wie er sich ausdrückt, ein guter Patriot zu sein. Dazu gehörte auch das Aufmucken gegen Saddam Husseins Baath-Partei. In den frühen siebziger Jahren wurde Badschet degradiert, weil er es gewagt hatte, den Machtmissbrauch der Baath anzuprangern. Er musste seinen Posten als Direktor der Erziehungsabteilung in der Provinz Nassirijah aufgeben und als einfacher Lehrer im Norden des Landes eine Arbeit annehmen. Die Bestrafung empfindet er als den Preis, den er für seinen Glauben an einen modernen, säkularen Irak bezahlen musste.

In den vergangenen Tagen erfuhr Badschet, dass der derzeitige Präsident des irakischen Übergangskabinetts, Achmed Dschalabi, ein Dekret verabschiedet hat, wonach alle Baath-Mitglieder ihrer Arbeit enthoben werden. Badschet las die Nachricht in der Zeitung. Am selben Tag verließ er seinen Arbeitsplatz in der Erziehungsbehörde der Stadt Bagdad. Danach ging Badschet daran, einen langen Brief aufzusetzen, mit dem er beweisen will, dass er zu Unrecht bestraft wird. Er hat sich keines Vergehens schuldig gemacht. Ganz im Gegenteil, er selbst war ein Opfer Saddam Husseins gewesen, wenn es ihn auch milde getroffen hat im Vergleich zu den Zehntausenden, die die Diktatur mit dem Leben bezahlen mussten. Badschet war 1994 endgültig aus der Partei ausgeschlossen worden, aber das ist den Besatzern nicht aufgefallen, während sie die Listen der Baath-Mitglieder durchgingen.

Den Brief hat Badschet geschrieben, Punkt für Punkt hat er seinen Werdegang aufgeführt und die Unbill geschildert, die er erfahren musste. Wenn er das Haus verlässt, dann steckt er den Brief in seine Brusttasche, wenn er zurückkommt, trägt er ihn immer noch bei sich. Er hat niemanden gefunden, der bereit wäre, sich seiner anzunehmen. Der Brief bleibt an ihm kleben wie der Beweis für dessen Nutzlosigkeit.

Das ist eine traurige Geschichte, aber Badschet ist ein politischer Mensch, und er sieht in seinem Schicksal mehr als nur ein individuelles Unglück. Die Parabel seines Lebens beschreibt den Aufstieg und den Fall des irakischen Nationalismus. „Ist Ihnen schon aufgefallen“, sagt er, „dass bei den Mitgliedern des Übergangskabinetts eine Gruppe fehlt? Die Araber!“ Tatsächlich haben die US-Verwalter Kurden und Turkmenen bestellt, die Araber scheinen namentlich als Gruppe nicht auf. Sie sind in die religiösen Kategorien „arabische Schiiten“ und „arabische Sunniten“ aufgelöst worden. Die Religion hat die Ethnie nach dem Willen der Besatzer geschluckt. Badschet ist nicht nur als Mensch überflüssig geworden, weil er der Baath-Partei angehörte, er ist auch als Araber in dem besetzten Irak von der Bildfläche verschwunden. Der Patriot Badschet hat keine Heimat mehr. Ist so etwas beabsichtigt? Teile und herrsche? Tatsache ist: Wer Männer wie ihn bestraft, trifft damit auch die Idee eines säkularen, starken, unabhängigen Irak. Und damit öffnet die Besatzungsmacht einen weiteren Strom, der den Widerstand speist – jenen des arabischen Nationalismus.

Für den Polizeileutnant Sami Ali sind das hochfliegende Gedanken. Er ist auch gar nicht bereit, sie aufzunehmen. „Ich bin Polizist geworden“, erzählt er, „weil ich weder für die Kunst noch die Wissenschaft ein Talent hatte.“ Aber auch das einfache Leben eines Polizisten kann sich sehr schnell verfangen im komplexen Netz der Politik. Sami Ali steht heute mittendrin im Krieg zwischen Guerilleros und Besatzungssoldaten, dem latenten Konflikt zwischen dem Aufbegehren einer verletzten Nation und dem Anspruch einer Weltmacht auf Herrschaft. Sami Ali nämlich versieht seinen Dienst in Tikrit, der Heimatstadt Saddam Husseins.

Die USA versuchen ihre Männer aus dem Schussfeld zu nehmen, indem sie möglichst schnell die irakische Polizei instand setzen. 37000 Polizisten sind inzwischen wieder im Dienst. Sie sollen für die Sicherheit auf den Straßen sorgen und den Irakern das Gefühl geben, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen können. Allzu oft bedeutet dies, dass die Polizisten schlicht ins Kreuzfeuer gestellt werden. Sami Ali ist sich dessen bewusst. Wie sollte es auch anders sein? Er sitzt in einer kleinen Polizeistation, gegenüber dem schwer befestigten Gebäude des Tikriter Gouverneurs. In manchen Nächten fliegen Raketen über das Dach der Polizeistation. Sami Ali duckt sich in diesen Nächten und geht später ins Freie, um nach dem Rechten zu sehen. Spät genug, um keinem Guerillero in die Quere zu kommen. Sollte man von ihm denn anderes erwarten, etwa dass er hinausgeht und den Attentäter unter dem Risiko seines eigenen Lebens jagt?

Die Besatzer erwarten das, aber Sami Ali kann darüber nur staunen. Warum sollte er, der kleine Polizeileutnant, eine Aufgabe schultern, die er ohnehin nicht bewältigen kann? Was hat er denn zur Verfügung? Eine altersschwache Kalaschnikow und Abdallah, den milchbärtigen Absolventen der Polizeischule. Das ist ein guter, hoch motivierter Junge, der es nicht verdient, für eine sinnlose Sache zu sterben. Abdallah hat noch nicht mal eine anständige Uniform. Nein, Polizeileutnant Sami Ali fällt der Guerilla nicht in den Arm.

Aber man muss nur ein wenig hinter das breite Lächeln des Leutnants schauen und sofort blitzt etwas auf, was den Besatzern Sorgen bereiten sollte. Er betrachtet Saddam Husseins Diktatur mit einem wohlwollenden Auge: „Damals gab es Sicherheit, aber kein Geld. Heute gibt es Geld, aber keine Sicherheit.“ Keineswegs will er das als eine Parteinahme für Saddam Hussein verstanden wissen und wehrt auch jede Interpretation in diese Richtung heftig, mit den Armen wedelnd, ab. Für ihn ist dieser Satz nur die treffliche Beschreibung der Realitäten. Heute verdient er 180 Dollar im Monat, während er zu Zeiten Saddam Husseins 13 Dollar bekam. Heute riskiert er, als Kollaborateur von seinen eigenen Leuten umgebracht zu werden oder von einem der Kriminellen, die sich für ihre unerwarteten Freiheiten mit Diebstahl, Raub und Entführung bedanken. Zu Zeiten Saddam Husseins fürchteten alle die eiserne Faust des Diktators. Sami Ali lebte sicher, weil im Land Friedhofsruhe herrschte. Das ist seine Wahrheit. Und die hält sich immer dicht am Boden.

Mit ebensolcher Nüchternheit redet er über den Kleinkrieg gegen die US-Soldaten. „Der Widerstand ist doch nicht erstaunlich. Wir sind ein besetztes Land.“ Er setzt eine kleine Pause, rückt auf den Stuhl herum, lehnt sich noch weiter über seinen Schreibtisch und fährt dann fort: „Und wenn wir noch länger besetzt bleiben, dann wird diese Widerstand weiter wachsen!“

In diesem Moment weiß man nicht recht, auf welcher Seite der Polizeileutnant steht. Er zerstreut die Verdächtigung mit schlichten Worten. „Wir sind doch alle Iraker, wir wollen die Besetzung nicht.“ Es bleibt dem jungen, ungelenken Abdallah überlassen, den allgemein gehalten Worten seines Vorgesetzten eine präzise Wendung zu geben. „Ohne den bewaffneten Widerstand würden die Amerikaner noch mehr auf uns herunterschauen wie auf wertlose Menschen!“