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Über die Olympischen Spiele hinaus gedacht

Proteste und Separatismus in Tibet
Von Barry Sautman, Hongkong
unsere zeit - Zeitung der DKP, 11. April 2008, Das Thema

Wo derzeit in westlichen Metropolen Kameras auf den olympischen Fackellauf gerichtet sind, springen auch tibetische Aktivisten ins Bild und fordern "Freiheit für Tibet". Barry Sautman, Professor an der Hochschule für Wissenschaft und Technologie in Hongkong, beleuchtet in einem Beitrag für die South China Morning Post bei uns kaum bekannte, über die Olympischen Spiele hinausreichende Hintergründe der Proteste in Tibet.

Die jüngsten Proteste in Lhasa und anderen Regionen Tibets wurden organisiert, um die chinesische Regierung im Vorfeld der Olympischen Spiele in peinliche Bedrängnis zu bringen. Das betonte der Tibetische Jugendkongress (Tibetan Youth Congress TYC), die bedeutendste tibetische Exilorganisation, die die Unabhängigkeit für Tibet fordert und sich zur Erreichung dieses Ziels für den Einsatz von Gewalt ausgesprochen hat. Sein Vorsitzender, Tsewang Rigzin, erklärte in einem Interview mit der Chicago Tribune am 15. März angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass chinesische Behörden die Proteste in Tibet unterdrücken würden: "Wir wollen sie testen, während sie im Rampenlicht der Olympischen Spiele stehen. Wir wollen, dass sie ihr wahres Gesicht zeigen. Deshalb treiben wir die Angelegenheit voran." Auf der Konferenz für ein Unabhängiges Tibet im Juni 2007, die in Indien von "Freunden Tibets" organisiert wurde, wiesen Redner darauf hin, dass die Olympischen Spiele eine einzigartige Gelegenheit für Proteste in Tibet darstellen. Im Januar 2008 gründeten Exilanten in Indien eine "Tibetische Volksaufstandsbewegung", um "im Geiste" des gewalttätigen Aufstands gegen die chinesischen Regierungsbehörden von 1959 "zu handeln" und sich auf die Olympischen Spiele zu konzentrieren.

Wer "protestiert" in Tibet?

Verschiedene Gruppen von Tibetern waren an den Protesten in Lhasa beteiligt, einschließlich des Niederbrennens und Plünderns von nicht-tibetischen Geschäften und Angriffen auf Migranten wie die Han und Hui (muslimische Chinesen). Die großen Klöster sind schon seit langem Zentren des Separatismus, aufgebaut durch den TYC und andere Exilgruppen, von denen viele vom US-Außenministerium oder dem Nationalen Finanzierungsfonds für Demokratie innerhalb des US-Kongresses finanziert werden. Die Mönche sind eigens danach ausgesucht, ob sie dem Dalai Lama ganz besonders ergeben sind. Wie sehr auch immer er seine eigene Position so charakterisiert, nur größere Autonomie für Tibet anzustreben, so wissen die Mönche, dass er nicht willens ist zu erklären, dass Tibet ein von China nicht trennbarer Teil ist, was jedoch für China die Vorbedingung für offizielle Verhandlungen ist. Weil das Exilregime eine Trennung von Politik und Religion nicht zulässt, halten viele Mönche das Festhalten am Standpunkt des Dalai Lama, der Nichtanerkennung der Legitimität der chinesischen Regierung in Tibet, für eine religiöse Verpflichtung.
Berichte über die Gewalt haben deutlich gezeigt, dass tibetische Händler, die mit Han und Hui konkurrieren, der Anwesenheit von Nicht-Tibetern besonders antagonistisch gegenüberstehen. Neben den Mönchen waren die Händler die hartnäckigsten Akteure der Proteste in Lhasa Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Auch dieses Mal wieder wurden viele Geschäfte der Han und der Hui angezündet. Viele der an Brandstiftung, Plünderung und dem Verprügeln von Menschen aus ethnischen Gründen Beteiligten waren auch sehr wahrscheinlich junge arbeitslose Männer. Die Städte haben viel mit der Landflucht von Tibetern zu tun, die wenig Qualifikationen für städtische Arbeitsplätze mitbringen. Videos aus Lhasa zeigten, dass die große Mehrheit der Aufständischen junge Männer im Teenageralter waren oder zwischen Anfang und Ende 20.
Die jüngsten Ereignisse in den tibetischen Regionen unterscheiden sich von breiten Demonstrationen von "Volksbewegungen" in verschiedenen Teilen der Welt in den letzten Jahrzehnten. Sie zeigen mitnichten einen überwältigenden tibetischen anti-chinesischen Konsens, wie ihn die internationalen Medien darstellen. Die höchste in den Medien geschätzte Zahl von Tibetern, die sich an den Protesten beteiligten, stammt von Steve Chao, dem Chef des Büros von Canadian Television News in Beijing. Sie liegt bei 20 000, d. h. nur jeder dreihundertste Tibeter ist beteiligt. Vergleichen Sie das mit den Protesten von 1986 gegen die Marcos-Diktatur von etwa drei Millionen, d. h. jedem neunzehnten Philipino.

Sozio-ökonomische Gründe für Protest


Tibeter haben berechtigte Beschwerden darüber, dass ihnen im Wettbewerb mit Migranten um Arbeit und im Geschäftsleben nicht ausreichend geholfen wird. Es gibt auch Diskriminierungen bei der Arbeitsplatzsuche durch Han, die Arbeitsplätze vorwiegend an Familienmitglieder oder an Leute vergeben, die aus ihren Heimatorten kommen. Die Kluft bei Bildung und Lebensstandard zwischen Tibetern und Han ist beträchtlich und wird zu langsam verringert. Die schwierigen Bedingungen dauern schon lange an. Die Proteste und Plünderungen fanden aber dieses Jahr statt, weil die Olympischen Spiele für die Separatisten eine gute Gelegenheit sind, ihr Vorhaben voranzutreiben.
In der Tat gab es eine grundlegende Diskrepanz zwischen den sozio-ökonomischen Problemen und den Slogans, die die Proteste begleiteten, wie zum Beispiel "Völlige Unabhängigkeit für Tibet" und "Mögen die Exilanten und Tibeter innerhalb Tibets wiedervereinigt werden", Slogans, die nicht zufällig lauten wie diejenigen, die von den Exil-Tibetern benutzt werden.
Während Separatisten keinen Erfolg damit haben werden, Tibet durch einen Aufstand von China abzutrennen, glauben sie, dass China am Ende zusammenbricht wie die ehemalige Sowjetunion und Jugoslawien. Und sie streben danach, ihren Anspruch auf die Herrschaft anzumelden, bevor dies geschieht. Alternativ denken sie, dass die Vereinigten Staaten intervenieren könnten, wie sie das überall sonst getan haben, um das Wegbrechen von Regionen in Ländern zu fördern, denen die Vereinigten Staaten feindlich gegenüberstehen, z. B. das Kosovo und der Südsudan. Die chinesische Regierung befürchtet auch solche möglichen Entwicklungen, wie unwahrscheinlich sie auch sein mögen. Dementsprechend handelt das Land, um Separatismus zu unterdrücken, eine Herangehensweise, die mit seinen Rechten im Rahmen des Völkerrechts vereinbar ist.

Separatisten in der Gunst des Westens

Die Separatisten wissen, dass sie auf die automatische Sympathie westlicher Politiker und Medien vertrauen können, die China als strategischen, wirtschaftlichen und politischen Konkurrenten betrachten. Westliche Eliten haben China daher in breiter Übereinstimmung dafür verurteilt, dass es die Unruhen unterdrückt, die diese Eliten in ihren eigenen Ländern niemals zugelassen hätten. Sie fordern, dass China in seiner Reaktion eingeschränkt werden solle. Während der Unruhen oder des Aufstands von Los Angeles im Jahre 1992 - die sich auf eine Menge andere große Städte ausweiteten - erklärte Präsident George W. Bush, als er Tausende von Soldaten dorthin schickte: "Es kann keine Entschuldigung für Mord, Brandstiftung, Diebstahl oder Vandalismus geben, die die Menschen von Los Angeles terrorisierten. ... Lassen Sie mich versichern, dass ich alle notwendige Gewalt anwenden werde, um die Ordnung wiederherzustellen." Weder westliche Politiker noch die bürgerliche Presse haben ihn in dieser Haltung angegriffen, während weder westliche Staats- und Regierungschefs noch der Dalai Lama diejenigen Tibeter kritisiert haben, die an den jüngsten ethnisch motivierten Angriffen und Brandstiftungen beteiligt waren.

"Kultureller Völkermord"?

Westliche Eliten geben der chinesischen Regierung keine Anerkennung für wesentliche Verbesserungen im Leben der Tibeter als Folge von Subventionen durch die chinesische Zentralregierung und Provinzen, Verbesserungen, die der Dalai Lama selbst zugegeben hat. Westliche Politiker und Medien unterstützen auch beständig die Behauptung des Dalai Lama, dass es in Tibet einen "kulturellen Völkermord" gebe, obwohl die Exilanten und ihre Unterstützer keine glaubwürdigen Beweise dafür vorlegen können, dass der Gebrauch der tibetischen Sprache, die Ausübung der Religion oder Kunst verboten und zerstört werden. Tatsächlich sprechen mehr als 90 Prozent der Tibeter Tibetisch als ihre Muttersprache. Tibet hat etwa 150 000 Mönche und Nonnen, die höchste Konzentration von Vollzeit-"Geistlichen" in der buddhistischen Welt. Westliche Gelehrte der tibetischen Literatur und Kunstformen haben bestätigt, dass sie aufblüht.
Ethnische Gegensätze in Tibet rühren von der Demographie, Wirtschaft und Politik der tibetischen Gebiete her. Separatisten und ihre Unterstützer behaupten, dass die Han-Chinesen Tibet seit langem "überfluten" und die Tibeter demographisch "versumpfen". Tatsächlich aber stieg zwischen dem Zensus von 1990 und 2000 (der alle Menschen berücksichtigt, die in einem Gebiet sechs Monate oder mehr gewohnt hat) der Prozentsatz der Tibeter in den tibetischen Gebieten insgesamt leicht und Han machten etwa ein Fünftel der Bevölkerung aus. Eine vorläufige Analyse des Mikrozensus von 2005 zeigt, dass es von 2000 bis 2005 eine leichte Erhöhung des Anteils von Han in Teilen des mittleren Westens von Tibet (die Tibetische Autonome Region/TAR) gab und wenig Veränderung im Osten von Tibet. Kräfte, die die Unabhängigkeit Tibets fordern, wollen, dass die tibetischen Gebiete von Han gesäubert werden (wie es 1912 and 1949 geschah). Der Dalai Lama hat gesagt, er wird ein Verhältnis von drei Tibetern zu einem Nicht-Tibeter akzeptieren, aber er stellt ständig die gegenwärtige Situation falsch dar, indem er von einer Mehrheit der Han spricht. Da er nicht nur den Status des obersten buddhistischen religiösen Führers hat, sondern als Verkörperung Buddhas gilt, würdigen die meisten Tibeter, was immer er zu diesem oder anderen Themen sagt.
Die ländlichen Gegenden Tibets, wo drei Viertel der Bevölkerung wohnen, haben nur sehr wenige Nicht-Tibeter. Die große Mehrheit der Han-Migranten in tibetischen Städten ist arm oder am Rande der Armut. Sie werden nicht direkt vom Staat subventioniert; jedoch werden sie wie die Tibeter indirekt subventioniert durch eine Entwicklung der Infrastruktur, die die Städte begünstigt. Etwa 85 Prozent der Han, die nach Tibet gehen, um dort Geschäfte zu eröffnen, scheitern; im Allgemeinen verlassen sie Tibet innerhalb von zwei oder drei Jahren. Diejenigen, die wirtschaftlich überleben, stellen für die tibetischen Geschäftsleute vor Ort eine Konkurrenz dar, aber eine umfassende Studie in Lhasa hat gezeigt, dass Nicht-Tibeter Pioniere im Bereich kleiner und mittelgroßer Unternehmensfelder waren, in die einige Tibeter dann später eingestiegen sind, wo sie ihre Kenntnisse der Gegebenheiten vor Ort nutzten, um zu prosperieren.
Tibeter sind nicht einfach eine Unterklasse; es gibt eine recht große tibetische Mittelschicht, die man in den Bereichen Regierungsapparat, Tourismus, Handel und kleine herstellende Betriebe und Transportunternehmen findet. Es gibt auch viele arbeitslose oder unterbeschäftigte Tibeter, aber fast keine arbeitslosen oder unterbeschäftigten Han, weil diejenigen, die keine Arbeit finden, wieder weggehen. Viele Han-Migranten haben eine rassistische Einstellung zu den Tibetern, meist ausgehend von der Meinung, dass Tibeter faul, schmutzig und religionsbesessen seien. Viele Tibeter erwidern dies, indem sie die Han als reich, geldbesessen und eingeschworen darauf darstellen, die Tibeter auszubeuten. Tibeter, die schon lange in den Städten wohnen, übernehmen Teile der Han-Kultur in sehr ähnlicher Weise, in der dies ethnische Minderheiten mit der Kultur ethnischer Mehrheiten weltweit tun. Tibeter werden jedoch nicht zwangsweise "sinisiert". Die meisten Tibeter sprechen wenig oder gar kein Chinesisch. Sie beginnen die Sprache in den höheren Grundschulklassen zu lernen und müssen in vielen Gebieten Tibets in dieser Sprache studieren, wenn sie weiterführende Schulen besuchen. Chinesisch ist jedoch eine der wichtigsten Sprachen der Welt, und wer die Sprache lernt, hat dadurch beträchtliche Vorteile, genauso wie das bei Menschen ist, die Englisch nicht als Muttersprache sprechen. ...
Auswirkungen der "Marktwirtschaft"

Die Entwicklung der "Marktwirtschaft" hatte in den tibetischen Gebieten so ziemlich den gleichen Effekt wie im übrigen China, d. h. eine Zunahme der Ausbeutung, eine Verschlechterung der Einkommen und Wohlstandsunterschiede sowie eine rasante Zunahme der Korruption. Das Maß, nach dem dies eine "ethnische Arbeitsteilung" beinhalte, die die Tibeter benachteiligt, wird jedoch von den Separatisten übertrieben, um eine ethnische Feindseligkeit zu fördern. Zum Beispiel ist Tibet nicht das ärmste Gebiet Chinas, wie oft behauptet wird. Es steht besser da als mehrere andere Gebiete mit ethnischen Minderheiten und selbst als manche Han-Gebiete, und das größtenteils aufgrund starker staatlicher Subventionen. Ländliche Tibeter bekommen auch mehr staatliche Subventionen als andere Minderheiten. Die Führer im Exil benutzen Übertreibungen und zwar nicht nur bezüglich des Ausmaßes der empirisch festgestellten Unterschiede, sondern auch hinsichtlich der eher grundsätzlichen ethnischen Beziehungen in Tibet: Im Gegensatz zu, sagen wir, Israel/Palästina haben Tibeter dieselben Rechte wie Han, sie genießen eine gewisse Vorzugsbehandlung in der Wirtschaft- und Sozialpolitik, und etwa die Hälfte der obersten Parteiführer in der TAR sind ethnische Tibeter gewesen.
Tibet hat keine Merkmale einer Kolonie oder eines besetzten Territoriums und hat so keinen Bezug zur Selbstbestimmung, einem Konzept, das in den letzten Jahrzehnten oft missbraucht wurde, besonders von den USA, um das Aufbrechen von Staaten und das darauf folgende Auseinanderdriften ihrer Bevölkerung zu fördern. Eine Einigung zwischen der chinesischen Regierung und den tibetischen Exileliten ist eine Voraussetzung für die Beseitigung der Schwierigkeiten und Probleme der Tibeter. Ohne eine Einigung wird die ethnische Politik sich weiterhin jedes andere Thema in Tibet unterordnen, so wie das zum Beispiel der Fall ist bei Taiwan und dem Kosovo, wo ethnische Unterschiede konstruiert werden durch "ethnische politische Unternehmer", die danach streben sich gegenseitig zu überbieten, um Unterstützung zu bekommen.
Die Unruhen in Tibet haben nichts dazu beigetragen, die Diskussionen um eine politische Einigung zwischen der chinesischen Regierung und den Exilanten zu erreichen. Dennoch ist eine Einigung notwendig, um wesentliche Erleichterung der Lebensumstände der Tibeter zu erwirken. Für die tibetischen Kräfte, die eine Unabhängigkeit fordern, ist ein Rückschlag solcher Bemühungen vielleicht genau der Zweck, den sie mit der Förderung der Unruhen verfolgten. Tibetische Kräfte, die die Unabhängigkeit vorantreiben, streben wie Separatisten überall danach, jede Sichtweise der Welt, die nicht auf ethnischen Zugehörigkeiten basiert, zu behindern. Und alle Bemühungen, ethnische Widersprüche aufzulösen, sind zu vereiteln, um die Mobilisierung anzukurbeln, die nötig ist, um ihre ethnisch-nationalistischen Projekte umzusetzen. Sie haben behauptet, dass China bald zusammenbrechen wird, und dass die USA anschließend ihre Schirmherrschaft über eine tibetische Staatselite zum Wohle der einfachen Tibeter verstärken werden. Man muss sich nur die vielen humanitären Katastrophen in der Welt ansehen, die aus einer solchen Denkart hervorgegangen sind, um die Folgen vorherzusehen, die die einfachen Tibeter wahrscheinlich zu tragen hätten, wenn sich die separatistischen Fantasien erfüllen sollten.

Quelle: www.Chinastudygroup.net
Übersetzung aus dem Englischen Vera Glitscher
Redaktion Lothar Geisler