Ansprache Prof. Ulrich Duchrows
bei der Kranzniederlegung für die Opfer westlicher Kriege
vor dem US- und Nato-Hauptquartier
in Heidelberg am 26.1.2002.

Verehrte Anwesende,

wir treffen uns hier im Rahmen der von der US-amerikanischen Friedensbewegung initiierten Antikriegswochen. Unser Hauptziel ist es, im Gedenken an die Opfer westlicher Kriege, und insbesondere des immer noch anhaltenden Krieges in Afghanistan, einen Kranz niederzulegen. Als die fast 3000 Menschen durch den zu verurteilenden, schrecklichen Anschlag auf das World Trade Centre starben, waren unsere Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen voll von Bildern der Leidtragenden. Wir hörten über viele heroische und tragische Einzelschicksale. So wie wir damals über die getöteten Menschen trauerten, trauern wir jetzt über die Menschen, die Bomben und Massakern in Afghanistan zum Opfer gefallen sind. Im Fall der Kriege gegen den Irak, gegen Jugoslawien und gegen Afghanistan gibt es aber nur ganz wenige Medien, die über die zivilen Opfer berichteten. Eine der Ausnahmen ist die Sendung Monitor. Sie berichtete vor kurzem, daß ein mutiger US-Forscher alle Informationen über zivile Opfer in Afghanistan gesammelt hat. In der niedrigsten Schätzung waren es um die 4.000, wahrscheinlich aber weit über 5.000, der Hamburger Friedensforscher Dieter Lutz vermutet über 10.000. Monitor zeigte auch Bilder von schwer verwundeten Kindern und erwachsenen Zivilisten. Weitere werden dazukommen, wenn die Minen der amerikanischen Streubomben explodieren.

Im Krieg gegen den Irak gab es direkt etwa 100.000 Opfer. Als Folge der Sanktionen starben dann allein mindestens 500.000 Kinder. Als diese Zahlen bekannt wurden, wurde die damalige Außenministerin Madeleine Albright um eine Stellungnahme gebeten. Sie sagte: ?This was a hard choice...but we think the price is worth it.? Und sie behielt ihren Job, wurde nicht vor ein Kriegsverbrechertribunal zitiert. Im Kosovokrieg sprachen die Militärs von ?Kollateralschäden?, wenn Züge, Busse oder Botschaftshäuser von den NATO- Bomben getroffen wurden. Dieses Wort wurde das Unwort des Jahres 1999. Heute morgen gab es im Journal von SWR 2 einen Nachruf auf dieses Wort ?Kollateralschäden?. Denn im Afghanistankrieg sprachen die US-Militärs gar nicht mehr über den Tod von Zivilisten, sie schwiegen den massenhaften Tod einfach tot. Die Sprache der Megabomben, von denen eine einzige 1 km² in eine Mondlandschaft verwandelt, und die Sprache der Streubomben, die noch lange die Glieder von Kindern, Frauen und Männern zerfetzen werden, schreit umso lauter gen Himmel.

Die USA brechen auch das Völkerrecht erneut, indem sie zuließen, daß ihre Verbündeten in der Nordallianz gefangene Taliban- und El Qaida-Kämpfer ungestraft massakrierten oder in Containern erstickten. Den Gefangenen in ihrer eigenen Gewalt sprechen sie den Status von Kriegsgefangenen ab, sperren sie in Tierkäfige und brechen damit die Genfer Konvention. Sie sprechen ihnen das Menschsein ab, machen sie zu Monstern. Dabei haben sie vergessen, daß viele von diesen Menschen – ebenso wie Bin Laden selbst – vom US Geheimdienst CIA engagiert wurden, um gegen die Russen in Afghanistan zu kämpfen. Nun verletzen sie an ihnen im Namen der Menschenrechte die Menschenrechte.

Diese Umkehrung der Menschenrechte im Namen der Menschenrechte zerstört die Menschenrechte selbst. Freilich haben nicht die USA diese Umkehrung erfunden, sondern wir Europäer. Die europäische Geschichte der modernen Menschenrechte ist die Geschichte ihrer Umkehrung. Die spanische Eroberung Amerikas wurde durch die Anklage der Menschenopfer der dortigen Kulturen begründet. Die spätere Eroberung Nordamerikas wurde ebenfalls mit den Menschenrechtsverletzungen von Seiten der indigenen Völker begründet. Die Eroberung Afrikas wurde als Kampf gegen den Kannibalismus dargestellt, und die Eroberung Indiens richtete sich gegen die Verbrennungen der Witwen. Die Chinas durch die Opiumkriege fand ebenfalls im Namen der Menschenrechte statt, die angeblich in China verletzt wurden. Der Okzident hat die Welt erobert, kolonialisiert, versklavt, erniedrigt und ganze Kulturen und Zivilisationen vernichtet und dabei nie gesehene Genozide durchgeführt, aber er hat alles immer im Namen des Schutzes der Menschenrechte getan.

Ich zitiere aus der Botschaft des Generalsekretärs der Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, an alle Glaubensgemeinschaften, insbesondere an die Muslime, nach dem 11. September:
?Jede Tat, durch die Leben zerstört wird, sei es durch Terror oder Krieg, widerspricht dem Willen Gottes... Eine Welt, in der mehr und mehr Menschen und sogar ganze Nationen in äußerster Armut gehalten werden, während andere immense Reichtümer anhäufen, kann nicht stabil sein. Die Tendenz, anderen – notfalls mit Gewalt – seinen Willen aufzuzwingen, die in der Politik mächtiger Staaten manifest wird, ruft in schwächeren Staaten Ressentiments hervor. Die Sprache der Drohung und die Logik des Krieges sind der Nährboden für Gewalt. Solange die Schreie derer nicht gehört oder beachtet werden, die durch unaufhörliches Unrecht, durch die systematische Vorenthaltung ihrer Rechte als Personen und als Völker und durch die Arroganz einer auf militärischer Stärke beruhenden Macht erniedrigt werden, läßt sich der Terrorismus nicht überwinden. Der einzige Weg aus diesem Dilemma besteht darin, das Unrecht wieder gutzumachen, das Gewalt zwischen Staaten und innerhalb von Staaten schürt.?

Mit dem Mechanismus des globalisierten Casino-Kapitalismus, der nicht dem konkreten Leben der Menschen in Einklang mit der Natur, sondern der Vermehrung des Reichtums der Kapitaleigentümer dient, töten wir jährlich ungefähr so viele Menschen, wie Opfer im gesamten 2. Weltkrieg zu beklagen waren, nämlich 40 Millionen. Diesen ?Terror der Ökonomie? zu erkennen, zu bekennen und wiedergutzumachen, brauchten wir im Westen eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie es sie in Südafrika nach der Apartheid gegeben hat. Dazu müssen wir die Opfer zu Wort kommen lassen. Sie fordern Gerechtigkeit, aber sind auch zur Versöhnung bereit. Hören wir auf die Stimme von Phyllis und Orlando Rodriguez, deren Sohn Greg unter den Trümmern der New Yorker Türme des Kapitalismus umkam:
?We read enough of the news to sense that our government is heading in the direction of violent revenge, with the prospect of sons, daughters, parents, friends in distant lands dying, suffering, and nursing further grievances against us. It is not the way to go. It will not avenge our son?s death. Not in our son?s name?
Let us grieve. Let us reflect and pray. Let us think about a rational response that brings real peace and justice to our world. But let us not as a nation add to the inhumanity of our times.?

Darum versichern wir alle Opfer der Gewalt von Terror und Krieg unserer Solidarität.
Darum fordern wir von den USA und unserer Regierung mit den Initiatoren und Initiatorinnen dieser Kranzniederlegung:

Nicht in unserem Namen soll die Gewaltspirale weiter hochgeschraubt werden.

Ulrich Duchrow